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Trennlinien in den USA

Von Martin Weiss

Gastkommentare

Wie lässt sich das riesige Land mit seinen 328 Millionen Einwohnern ein bisschen unterteilen, um es ein besser zu verstehen?


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Wenn man aus der Distanz über "die USA" spricht, dann ist das ungefähr genauso präzise, wie wenn ein Amerikaner über "Europa" beziehungsweise "die Europäer" spricht. Wie viel hat ein Farmer aus Montana denn wirklich mit einem Aktienhändler aus New York City gemein? Wahrscheinlich nicht viel mehr als ein Reeder aus Rotterdam mit einem Restaurantbesitzer aus Thessaloniki. Sollte man, um "die USA" besser zu verstehen, nicht vielleicht versuchen, dieses riesige Land mit seinen 328 Millionen Einwohnern ein bisschen zu unterteilen? Aber welche Unterteilungen wären es denn dann, die einem das Verständnis erleichtern?

Rote gegen blaue Staaten

Man könnte es etwa mit einer politischen Einteilung versuchen, wie sie seit dem Jahr 2000 gerne verwendet wird: rote (die traditionelle Parteifarbe der Republikaner) gegen blaue (die traditionelle Parteifarbe der Demokraten) Staaten. Zwar ist natürlich kein US-Bundesstaat völlig homogen, und Wähler mit den unterschiedlichsten politischen Anschauungen gibt es in allen Bundesstaaten, aber es gibt in den USA doch auch ein hohes Maß an politischer Stabilität: Ganze 37 von 50 US-Bundesstaaten haben bei den Präsidentschaftswahlen seit dem Jahr 2000 stets für einen Kandidaten derselben Partei gestimmt. Und auch bei den diesjährigen Präsidentschaftswahlen wird sich daran nicht sehr viel ändern: Für die Vorhersage etwa, dass am 3. November 2020 in Kalifornien, Oregon und Portland mehrheitlich demokratisch abgestimmt werden wird und die Mehrheit der Wähler in Mississippi, Arkansas und Louisiana republikanisch wählen werden, bedarf es keiner Kristallkugel.

Gewisse Änderungen gibt es aber doch über die Jahre. Und diese könnten heuer entscheidend werden: Denn zuletzt verlässliche rote Staaten wie Florida, Arizona oder Ohio werden derzeit als "toss up states" gesehen - niemand kann dort aus heutiger Sicht so recht absehen, für welchen der beiden Kandidaten sich die Wähler im Herbst entscheiden werden. Rot gegen Blau, das ist daher eine Einteilung, die in den USA manches erklärt, aber eben nur manches.

Stadt gegen Land

Wenn die Einteilung nach den politischen Präferenzen einzelner US-Bundesstaaten ein allzu grober Raster ist, wie wäre es dann etwa mit einer Einteilung von Land gegen Stadt, also "rural America" versus "urban America"? Die allgemeinen Trends auf dem Land sind in den USA jedenfalls ziemlich stabil: Die Bevölkerungszahl nimmt dort - im Gegensatz zu den Städten - langsam, aber stetig ab. Die mehrheitliche Bevölkerung ist dort weiß, das hat sich in den vergangenen Jahrzehnten kaum geändert, und die Bevölkerung altert. Ganz anders in den US-Städten: Dort sinkt die Zahl der weißen Bevölkerung Jahr um Jahr, 53 Prozent aller "urban counties" der USA sind heute mehrheitlich "non-white", die Städte wachsen und sind jung.

Wenn es zu den politischen Anschauungen kommt, dann gibt es ebenfalls klare Trennlinien zwischen Stadt und Land: Auf dem Land ist man mehrheitlich religiös (daher auch der oft gebrauchte Ausdruck des "bible belt"), in den Städten säkular. Das Recht auf Abtreibung wird auf dem Land von 46 Prozent der Bevölkerung unterstützt, in den Städten sind es 61 Prozent. Die wachsende Zuwanderung wird auf dem Land von einer klaren Mehrheit als Bedrohung empfunden, für die Bewohner von Städten ist sie tendenziell eine "Stärkung der amerikanischen Gesellschaft" (so zuletzt eine Studie des Pew Research Center).

Die Unterscheidung zwischen Land und Stadt ist also signifikant. Wer in den USA in einem der "fly-over states" lebt (also in einem der Bundesstaaten, die meist nur überflogen werden, in denen aber kaum jemand stoppt), hat tendenziell deutlich andere politische Ansichten und Präferenzen als die "coastal elites", also die an den beiden Küsten lebenden politischen Eliten.

Rivalität regionaler Kulturen

Einen deutlich komplexeren Ansatz, um die teils tiefen kulturellen und gesellschaftlichen Spannungen innerhalb der USA zu erklären, hat der US-Journalist Colin Woodard in seinem Buch "American Nations: A History of the Eleven Regional Cultures of North America" gewählt: Es gehe in den USA nicht so sehr um rote oder blaue Staatsgrenzen als vielmehr um Unterschiede in der historisch gewachsenen "Siedlermentalität".

Für die Quäker und Protestanten der Ostküste stand stets das Wohl der Gemeinde an oberster Stelle. Ganz anders sahen das naturgemäß die Sklavenhalter im Süden der USA oder die Cowboys und Ranger im Westen. Freiheit oder das Wohl der Gesellschaft, das sind zwei grundverschiedene Prismen, durch die man die Welt betrachten kann. Und diese Grundansichten ziehen sich laut Woodard auch quer durch einzelne US-Bundesstaaten. Im Norden Kaliforniens etwa hätten sich mehrheitlich die "disziplinierten Yankees der Ostküste" angesiedelt, während Südkalifornien oder Los Angeles da ganz anders ticke.

Je nach "Siedlermentalität" lasse sich übrigens in den USA auch die unterschiedliche Reaktion auf die Corona-Krise erklären: Die Akzeptanz einer strengen Maskenpflicht sei an der Ostküste der USA kein Problem gewesen. Dort vertraue man auf Wissenschaft, Medizin und die Regierung. Ganz anders aber etwa in der Region von Texas bis Georgia. Hier werde eine Maskenpflicht als Angriff auf die persönliche Freiheit empfunden, ganz so wie etwa schärfere Waffengesetze. Und derartige Vorstöße lehne man in dieser "cultural region" eben instinktiv ab.

Doch ganz gleich, welchen Maßstab man an die USA anlegt, keine diese Unterteilungen wird diesem riesigen Land in all seiner Komplexität gerecht. Viel besser ist es da noch immer, man begibt sich auf den Weg und macht sich sein eigenes Bild. Aber wohl erst dann, wenn die Corona-Krise vorüber ist.