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Podgorica · Die Vertriebenen aus dem Kosovo suchen nach ihren Verwandten. Fast jeder hat jemanden verloren. Drita Gelaj aus Pec und ihre fünf kleinen Kinder fanden in der
montenegrinischen Stadt Ulcinj Zuflucht. Ihre Geschichte ist die übliche: Serbische Polizisten kamen und gaben der Familie fünf Minuten Zeit um zu verschwinden. "Sie nahmen die kleinen Kinder am
Nacken und warfen sie einfach ins Auto. In so kurzer Zeit konnte man nichts einpacken. Man hatte nicht einmal Zeit, zu überlegen, was zum Mitnehmen wichtig wäre", erzählt Frau Gelaj, die nur die
Kleider, die sie trägt, besitzt. Ihr Mann wurde von der Familie getrennt.
Aber Frau Gelaj ist glücklich, denn sie weiß, daß der Vater ihrer Kinder lebt. Er ist in Kukes in Albanien. Sie sah ihn in einer amerikanischen Nachrichtensendung und rief sofort ihren in den USA
lebenden Schwager an. Später rief auch ihr Mann seinen Bruder an und so fand sich die Familie über Amerika wieder. "Es war ein merkwürdiger Zufall, wie in einem Film", sagt Frau Gelaj.
Doch nicht alle Vertriebenen haben derartiges Glück. Die meisten suchen ihre Verwandten. Gelajs Nachbarin in der Flüchtlingsunterkunft vermißt ihren Mann und ihren Bruder schon seit Juli. "Die
Polizisten haben nicht auf den Zusammenhalt der Familie geachtet. Der eine wurde dorthin, der andere dahin vertrieben. Ich glaube, daß dieses Auseinandertreiben der Familien eine gezielte Politik
ist", sagt Skender Berani aus Pec. Er steht mit dieser Ansicht nicht allein da.
Die Serben wissen, daß die Großfamilie in der albanischen Kultur äußerst wichtig ist. Ohne sie sind die Albaner verloren. Gerade die Solidarität der Großfamilie macht die Albaner stark. Ursprünglich
wollte der nunmehrige jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic, daß die Kosovo-Albaner die Provinz freiwillig verlassen. 1990 wurde albanischstämmiges Personal aus den staatlichen
Unternehmen entlassen, die großteils die einzige Arbeit boten. Alle kosovarischen Institute wie Banken wurden abgeschafft. Die Albaner wurden von Schulen und vom Gesundheitswesen ausgeschlossen.
"Die wollen uns aus dem Kosovo herausekeln. Und wie? Dadurch, daß sie die wichtigsten Gebiete der Gesellschaft kaputt machen. Das sind Unterricht, Krankenpflege und Wirtschaft", sagte der nunmehrige
Chef der Kosovo-Exilregierung Bujar Bukoshi im Herbst 1990. Er selbst ist ein entlassener Arzt und Universitätsdozent. Doch die Albaner ließen sich nicht herausekeln. Die Politik von
Milosevic scheiterte an der Solidarität der Großfamilie. Jede Familie hatte jemanden im Ausland. Gastarbeiter erhielten ihre Brüder im Kosovo. Sie konnten zwar kein Geld überweisen, weil es kein
kosovarisches Bankenwesen mehr gab, doch finanzielle Hilfe wurde mit Kurieren überbracht. Mit Hilfe der Großfamilie konnten die Albaner eine eigene Verwaltung, ein eigenes Schulwesen und eine eigene
Krankenpflege organisieren.
Das Auseinandertreiben der Familien schwächt die albanische Gesellschaft empfindlich. Es macht jede Rückeroberung des Kosovo schwierig. Die Albaner werden nicht nur vertrieben. Auch die Grundlage
ihrer Gesellschaft · das Clanwesen · wird gebrochen.