Ohne die Beziehung zu Tieren wäre die Evolution des Menschen anders verlaufen, legt Verhaltensforscher Kurt Kotrschal nahe.
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"Wiener Zeitung": Menschen ohne Tiere seien weder erklärbar noch lebensfähig, betonen Sie in ihrem neuen Buch. Wäre die Evolution ohne Mensch-Tier-Beziehung anders verlaufen?Kurt Kotrschal: Die Evolution wäre mit Sicherheit anders verlaufen, denn Menschen charakterisieren sich durch ihren engen Bezug zu Natur und Tier. Auch das Gehirn und die Spiritualität sind in diesem Kontext entstanden. Erst die abendländische Geistesgeschichte und der Monotheismus brachten die Emanzipation von Natur und Tier. Auf dem Höhepunkt der Aufklärung erklärte der Philosoph René Descartes Tiere sogar zu nicht bewusstseinsfähigen Wesen - womit er unrecht hatte: Natürlich haben Menschen ein ausgeprägteres reflektives Bewusstsein, aber auch die anderen Tiere haben Gefühle und kognitive Fähigkeiten.
Sind sich die anderen Tiere ihrer Gefühle bewusst?
Bis zu einem gewissen Grad wahrscheinlich schon, aber Experimente zum Nachweis sind nicht leicht zu entwickeln. Ich traue einem Hund und einer Katze zu, dass sie sich dessen bewusst sind, wenn sie sich vor Freude zerkugeln, weil ihr Besitzer nach Hause kommt. Tiere können auch ihre Gefühle verbergen und damit tricksen, was ein gewisses Maß an Bewusstsein voraussetzt. Auf der anderen Seite sind sich nicht alle Menschen ihrer feinsten Regungen bewusst. Da das Bewusstsein über Gefühle geweckt wird, indem man sie benennt, ist es wichtig, von klein auf über sie zu reden: Wenn ich Gefühle mit Worten versehe, gewinne ich tiefe Einsichten in meine Emotionen und werde gleichzeitig empathiefähig. Ich bin mir nicht sicher, wie gut andere Tiere in dieser Beziehung sind.
Hat die Beziehung zu Tieren den modernen Menschen im Laufe der Jahrtausende genetisch verändert?
Das ist mit Sicherheit so, aber nicht nachweisbar, denn es gibt keine Vertreter des Homo sapiens, die anders entstanden wären. Wir sehen nur, dass Kinder ein starkes Interesse an Tieren haben - sechs Monate alte Säuglinge haben die längsten Aufmerksamkeitsspannen für ihre felligen Freunde. Die ersten Worte sind tierbezogen und Kinderbücher sind voll mit Tieren, denn Tiere sind ein Spiegel für den Menschen. In der Therapie erhöhen Tiere die Kommunikationsbereitschaft und beruhigen, weil wir eine ganz tiefe Beziehung auf unbewusster Ebene zu ihnen haben. Wir wenden unsere sozialen Instrumente auch gegenüber Tieren an und sie machen dasselbe mit uns.
Menschen und Wölfe zählen zu den kooperativsten Arten. Warum leben sie nicht zusammen?
Die Beziehung des Homo sapiens zum Wolf geht auf die ersten Einwanderer in Mitteleuropa vor 40.000 bis 50.000 Jahren zurück. Beide Arten hatten schon immer ein ambivalentes Verhältnis. Weil Wölfe im Gegensatz zu Hunden uns nicht uneingeschränkt anerkennen und ihre eigenen Interessen wahren, war unser Vieh und waren zum Teil unsere Kinder vor ihnen nie ganz sicher. Auch Gesellschaften, die alte Wolfsbeziehung aufleben lassen, wie die Mongolen, haben keineswegs nur Wolfsschutz im Kopf: Wenn es die Wölfe übertreiben, werden sie abgeschossen. Unsere Wölfe im Forschungszentrum könnten uns töten, aber sie tun es nicht. Das ist eine bewusste Entscheidung: Weil wir sozial sind und Arbeitsgefährten, haben wir von ihnen nichts zu befürchten und sie nicht von uns. Mit Wölfen ist es eine Partnerschaft auf Augenhöhe. Bei den Hunden ist diese Augenhöhe ein bisschen verloren gegangen.
Haben wir den Hund erfunden - oder er sich?
Es war nicht immer ein Selektionsprozess, sondern eher eine Geschichte der Anpassung. Ein Hund zu sein, hat ja auch einen Riesen-Vorteil: Es gibt heute rund 200.000 frei lebende Wölfe und eine Milliarde Hunde: Die Hunde haben uns als Vektor benutzt.
Wie hat die Domestizierung die Tiere genetisch verändert?
Unsere neuen Ergebnisse im Vergleich zwischen Wolf und Hund zeigen, dass Hunde im Umgang mit uns nicht sozial kompetenter oder intelligenter geworden sind, sondern dass sie eher an selbständigem Denken abgebaut haben, wesentlich abhängiger von uns geworden sind und in einer steileren Dominanz-Hierarchie leben. Das brauchen wir jedoch, denn mit zahmen Wölfen zu leben ist extrem kompliziert.
Warum ist in westlichen Ländern der Tierschutz so modern?
Dieser Trend widerspiegelt Änderungen in der Einstellung der Gesellschaft zu Tieren. Für junge Menschen sind Tiere "Du"-Wesen, nicht reine Nahrung. Außerdem gehen Achtung vor Tieren und Achtung vor Menschen parallel. Die soziale Einstellung von Kindern wird stark dadurch geprägt, wie Erwachsene mit Tieren umgehen, denn wer Tiere erschießt, schießt auf Mitwesen. Die Menschlichkeit einer Gesellschaft zeigt sich somit in der Beziehung zu Tieren. Darum ist auch der Trend, weniger Fleisch zu verzehren, mit allen Schwierigkeiten und Brüchen ein Zeichen für die Weiterentwicklung der Gesellschaft.
Zur Person
Kurt
Kotrschal
ist Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle Grünau, Mitbegründer des Wolfsforschungszentrums in Ernstbrunn und Österreichischer Wissenschafter des Jahres 2010. Sein neues Buch, "Einfach beste Freunde" ist soeben im Brandstätter-Verlag erschienen.