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Zur blauen Stunde ist Helsinki am schönsten. Wenn die Sonne untergegangen ist und bevor die Nacht die Stadt umhüllt, vermischt sich das Metallblau des Himmels mit den Lichtern der Straßenlaternen. In den gläsernen Hausfassaden spiegeln sich die leuchtenden Reklameschilder. Wie deren Abbilder sind die wehenden Fahnen im oberen Stockwerk des Kiasma, des Museums für zeitgenössische Kunst, nur ein Trug, wenn auch ein umgekehrter: Sie sind keine Spiegelung an der Außenwand sondern eine Installation im Inneren. Von jeder Seite präsentiert sich der fantastische Bau anders: mit schrägen Platten beim Eingang, wie der Rumpf eines Walfisches an der Längsseite. Die Front könnte die riesige Kulisse für die Kommandobrücke eines Raumschiffs abgeben.
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Zur blauen Stunde ist das geschäftige Treiben der finnischen Hauptstadt auch an einem Freitagabend noch nicht abgeklungen, gehen die Menschen im berühmten Kaufhaus Stockmann noch ein und aus, stellen sich die Jugendlichen noch nicht vor den vielen Lokalen an. Erst Stunden später stehen sie - ebenso geordnet und geduldig wie zuvor vor der Diskothek - Schlange vor einem der Taxistände.
Doch viele sind bereits auf dem Weg, Helsinki für das Wochenende oder zumindest für eine Nacht zu verlassen.
Tausende estnische Wochenpendler fahren nach Dienstschluss nach Hause. Nach Tallinn sind es gerade einmal 42 Seemeilen, rund 80 Kilometer, alle Stunden legen die Fähren in Richtung Süden ab. Klein sehen sie im Vergleich zu den Fähren nach Schweden aus, die wie schwimmende Hochhäuser die klassizistischen Gebäude des Marktplatzes am Südhafen überragen. Mittlerweile bilden Esten die größte Gruppe an Gastarbeitern in Finnland. Zweieinhalb Jahre nach dem EU-Beitritt des baltischen Staates arbeiten rund 15.000 Esten im Land.
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Doch beim Nordhafen, wo die wuchtige MS Galaxy mit Platz für mehr als 2500 Passagiere vor Anker liegt, sind nicht viele Esten zu sehen. Die Menschen - großteils Männer - in den Schlangen vor den Kartenschaltern und bei der Passkontrolle halten meist finnische Pässe in der Hand. Vor der Abfahrt bleibt Zeit für ein paar Getränke: Im kleinen Restaurant des Terminals wird ein Bier nach dem anderen ausgeschenkt. Die Party beginnt schon vor der Party - zu diesem Zweck haben nämlich die meisten ein Ticket gekauft.
Alper und sein Freund haben sogar eine Kabine gebucht, wo sie schlafen können. Der Mittvierziger ist Busfahrer und nicht zum ersten Mal nach Tallinn unterwegs. Seinen Kollegen muss er Zigaretten mitnehmen, die sind im Duty-Free-Shop weit billiger als in Finnland. Ein Schiff muss sich nur eine gewisse Zeit in internationalen Gewässern aufhalten, um zollfreie Ware anbieten zu können. So muss Alper nicht einmal von Bord gehen. Ebenso wenig muss er es tun, um Unterhaltung zu bekommen. Im Kasino, in der Diskothek, in Restaurants und Geschäften können sich die Gäste vergnügen. Und mit billigem Alkohol versorgen. Das wissen Finnen, die in ihrem Land im Schnitt fünf Euro für ein Bier ausgeben müssen, zu schätzen.
Statistiken zufolge gibt es weltweit nur sechs Länder, in denen der Pro-Kopf-Konsum reinen Alkohols bei mehr als zehn Litern im Jahr liegt. Und zu den Staaten gehören Finnland und Deutschland. Die finnischen Gesundheitsbehörden haben bereits Alarm geschlagen: In den vergangenen zwei Jahren sei der Alkoholkonsum massiv gestiegen, bedingt durch gesunkene Alkoholsteuern - und die Möglichkeit, in Estland einzukaufen. Mittlerweile ist Alkohol Todesursache Nummer eins: Im Vorjahr starben mehr finnische Männer an den Folgen von Alkoholkonsum oder Alkoholvergiftung als an Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs.
Die Fahrten nach Tallinn sind jedenfalls äußerst beliebt. Allein die estnische Fährreederei Tallink beförderte im Vorjahr 3,2 Millionen Passagiere und setzte 260 Millionen Euro um. Wie viele Menschen von Bord gehen, um die Sehenswürdigkeiten der mittelalterlichen estnischen Hauptstadt zu erkunden, bleibt dabei im Dunkeln. Dass aber Beisl- und Bordellbesuch Fixpunkt etlicher Betriebsauflüge ist, ist ein offenes Geheimnis.