Nato und Rebellen unter Zeitdruck: UN-Mandat läuft ab. | Gaddafis Militärchef desertiert.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 13 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Tripolis. Die Schlinge um Muammar Gaddafis Hals zieht sich mit jedem Tag enger zu. Von Westen, Süden und Osten rücken die Rebellen auf Tripolis vor, in den vergangenen Tagen sind die strategisch wichtigen Städte Zawiyah, Surman und al-Ghariyan gefallen. Die Rebellen blockieren westlich der libyschen Hauptstadt die wichtige Küstenstraße, es ist nur noch eine halbstündige Autofahrt, die Gaddafis Gegner von Tripolis trennt.
Die militärische Lage aus Sicht Gaddafis ist tatsächlich fatal: Oppositionelle stehen in den Vororten von Al-Heisha, sollten sie die Stadt einnehmen, wären wichtige Verbindungsstraßen zwischen Tripolis und der Gaddafi-Hochburg Sirte abgeschnitten und die Einkesselung von Tripolis so gut wie perfekt. Rebellen aus Misrata sind ebenfalls auf dem Vormarsch. Der Belagerungsring der Gaddafi-Truppen um die drittgrößte libysche Metropole ist längst gesprengt, jetzt geht es nach Westen, in Richtung Tripolis. Im Nordwesten und Osten der Hauptstadt sind Gaddafis Truppen so rasch abgezogen, dass die Nato von Flucht spricht. Ihr Kriegsgerät haben sie einfach liegengelassen.
Der Bürgerkrieg sei in die entscheidende Phase getreten, sind sich die Rebellen sicher, ihre Siegesgewissheit war noch nie so groß wie gerade jetzt.
Noch hält der Verteidigungsriegel um Tripolis, den Gaddafis Truppen hochgezogen haben, die Armee und Söldner-Brigaden werden mit jedem Tag schwächer. In der Hauptstadt selber bereiten sich die Gegner des Diktators auf die Stunde X vor, schon jetzt sei in den Nachtstunden Gewehrfeuer zu hören, berichten Augenzeugen dem TV-Sender „Euronews”. US-Verteidigungsminister Leon Panetta ist sich sicher, dass Gaddafis Tage gezählt sind. Geduld, Konsequenz und internationale Kooperation laute das Erfolgsrezept, fügt Außenministerin Hillary Clinton hinzu. Der jüngste Einsatz von militärisch wertlosen Scud-Raketen zeige, in welch verzweifelter Lage sich Gaddafi befinde, konstatieren westliche Strategen. Das sei so, als ob man Teller an die Wand werfe: „Eine Menge Lärm und das ist es dann auch”, so Nato-Militärsprecher Roland Lavoie.
Es wird zusehends einsam um den libyschen Revolutions-Oberst, der sich krampfhaft an die Macht klammert. Zuletzt hat ihn sein Vize-Innenminister verlassen und ist nach Ägypten geflohen, dann folgte der Chef der libyschen Streitkräfte, ein alter Weggefährte. Nicht nur die personelle, auch die ökonomische Basis Gaddafis wird schmäler. Denn die Rebellen kämpfen auch in der wichtigen Ölstadt Brega. Die Wohnviertel sind schon unter ihrer Kontrolle, die Raffinerien am Rand der Stadt noch nicht. Sollten auch diese in die Hände der Opposition fallen, wären dieser Einnahmen in Millionen-Höhe aus dem Ölgeschäft sicher.
International isoliert
Die letzten militärischen Erfolge kommen aus Sicht des Westens keineswegs zu früh. Das UN-Mandat, das den militärischen Einsatz der Nato in Libyen ermöglicht, läuft Ende September aus. Dann müsste der Einsatz erneut genehmigt werden. Die Veto-Mächte im UN-Sicherheitsrat Russland und China haben wiederholt klar gemacht, dass ihnen der Einsatz der Nato zu weit geht. Dass Muammar Gaddafi nach den Ereignissen der letzten sechs Monate nicht mehr tragbar ist, darüber ist man sich auch in Moskau und Peking im klaren. Durchaus denkbar also, dass die internationale Gemeinschaft ab Oktober mit einem limitierten oder gar keinem Mandat ausgestattet ist. Deshalb drängt die Zeit, es muss rasch eine militärische Entscheidung geben. In den Nato-Stäben ist man sich einig, dass Gaddafis Truppen zumindest so stark geschwächt werden müssen, dass die Rebellen notfalls auch im Alleingang siegen.
Der libysche Diktator mobilisiert unterdessen seine letzten Reserven mit Durchhalteparolen, die die gewohnte Pathetik nicht vermissen lassen: „Voran, greift zu den Waffen, zieht in den Kampf zur Befreiung Libyens aus den Händen der Verräter und der Nato, Zentimeter um Zentimeter”, so Gaddafi via Staats-TV. Die Tonqualität der Rede war schlecht, einzelne Worte des Revolutionsführers blieben unverständlich. Er wandte sich offenbar per Telefon an die Bevölkerung: „Macht Euch bereit zum Kampf! Das Blut der Märtyrer ist der Treibstoff für das Schlachtfeld.” Das Ende der „Kolonisatoren” (Nato, Anm.) und der „Ratten” (Rebellen, Anm.) sei nahe. Die vom Feind eingenommenen Städte würden wieder zurückerobert, heißt es in Tripolis.
Letztes Aufgebot
Das bedrängte Regime lässt mittlerweile alle Waffen einsammeln, die auffindbar sind. Man wolle verhindern, dass die Bürger sinnlos damit herumschießen würden, heißt es in offiziellen Stellungnahmen. Gleichzeitig gibt die Staatsführung zu, dass das Material gegen die Feinde eingesetzt werden soll. Als letztes Aufgebot, wenn die Rebellen tatsächlich in die Hauptstadt eindringen sollten. Unterdessen brodelt es gewaltig in der Gerüchtekühe: Gaddafi plane, sich nach Südafrika abzusetzen, will die arabische Zeitung „Al-Sharq Al-Awsat” wissen. Gaddafis Büroleiter, Bashir Salih, habe höchstpersönlich in Mauretanien, Mali und Tunesien erklärt, Gaddafi sei krank und wolle das Land verlassen, um sich medizinisch behandeln zu lassen. Der Libyer soll den südafrikanischen Präsidenten Jacob Zuma bereits gebeten haben, ihn und seine Familie aufzunehmen. Gaddafi habe, um seine sichere Ausreise zu garantieren, auch Kontakt zu französischen und britischen Spitzenbeamten aufgenommen, so die Zeitung.
Auch ist von Geheimverhandlungen die Rede, die es zwischen Gaddafi-Leuten und Rebellen auf der tunesischen Ferieninsel Djerba gegeben habe. Die Gespräche wurden laut Presseagentur AFP unter strengen Sicherheitsvorkehrungen in einem Hotel geführt. Drei libysche Minister und ausländischen Parteien hätten daran teilgenommen. So soll ein Gesandter des krebskranken venezolanischen Staatschefs Hugo Chavez beteiligt gewesen sein. Im Februar hat es wegen der engen Beziehungen beider Länder Gerüchte gegeben, dass Gaddafi bereits zu Chavez geflohen sei. Venezuela und der Iran stehen fest hinter Gaddafi und verurteilen unisono die „imperialistische Gewalt” gegen Libyen. Die Regierung in Tripolis und die Rebellen dementieren freilich, dass es Gespräche gegeben habe. Gaddafi werde das Land „niemals verlassen”, heißt es aus Tripolis. Die Rebellen pochen auf ihre prinzipielle Haltung, mit Gaddafi nicht zu reden.