Thailands Hauptstadt Bangkok ist ein Konglomerat aus Kitsch und Kommerz, Hypermoderne und Tradition. Eine fotografisch-literarische Erkundung.
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Im Jahr 1975 fühlte man sich in Bangkok wie in einem Film von Ridley Scott. Alles war dunkel und chaotisch, überall Smog und erstarrter Verkehr, verwaschene Farben und gehetzte Fußgänger. Chinesen in weißen Unterhemden, die auf Rattanstühlen hockten und sich mit Pinzetten die Kinnhaare ausrissen; dahinter vor Schrott überquellende Läden.
Die Stadt hatte ein reiches Innenleben, nur Herz hatte sie keines. Nie war nur irgendjemandem eingefallen, dass die Stadt ein Zentrum brauchte. Die Fahrt von einem Ende zum anderen dauerte - damals - einen halben Tag. Wie ein feuchter Lappen hing man aus dem Fenster des Busses, der langsam vorwärts kroch und nur von älteren Damen, streunenden Hunden und der Zeit überholt wurde. Wie unglaublich riesig und endlos war die Stadt!
Ich kam damals am Dong Muang Flughafen an, der eher an einen Busbahnhof erinnerte als an einen Flughafen, mit seinen Kiosks, Kundenfängern und seinem Gedränge: "Sexy Bangkok Night Tour!" Taxifahrer griffen an wie Moskitos. Man wehrte sie ab, die Hartnäckigsten setzten sich durch. Nun bezog man das erwählte Gefährt für die folgenden Stunden quälender Fahrt Richtung Stadt. Die Klimaanlage außer Funktion. Endlich, das Hotel, das "Malaysia" - ein Camelot des einsamen weißen Mannes. Huren gaben tiefe Einblicke und belagerten strategisch die Rezeption. Frauen, halbseiden, überall: am Pool, im Lift, in den Gängen. "Suchen Sie eine aus, Sir!" . . . Was zum Rauchen?, fragte der Junge vom Zimmerservice. Pulver? Ein Schuss? Eine Pille oder zwei? Ein Junge? Ein Schaf? Ich fühlte den Jetlag.
Das rhythmische Schlagen eines hölzernen Kopfteils gegen meine Zimmerwand, falsches Klopfen an der Tür und irrtümliche Anrufe aus der Rezeption hielten mich die Nacht über wach. Was war ich nur für ein enttäuschter, einsamer weißer Junge! Vierundzwanzig - und eine ganze Nacht lang ungeküsst von den roten Lippen Bangkoks . . .
Damals war Bangkok kein freundlicher oder gemütlicher Ort. Die Stadt verschluckte und spie einen wieder aus. Als das Flugzeug beim Rückflug an Höhe gewann, blickte ich auf das Miasma nieder und fühlte meine Wunden . . .
Mittlerweile habe ich ein Drittel meines Lebens in Thailand verbracht. 2007 war ich nach Bangkok gezogen. Wie man dort leben muss, verstand ich erst in dem Moment, als ich den Kultur-Stecker herauszog und all die Annehmlichkeiten des neuen Millenniums die entstandene Leere füllten. Gelassen rollte ein moderner Skytrain über dem Verkehrsinfarkt, der sich zu Füßen seiner Betonpfeiler abspielte. Die Fahrt von Mor Chit nach Ekamai, die früher mit bepackten Elefanten und örtlichen Führern zehn Tage dauerte, konnte man jetzt in einer Stunde bewältigen. (Ich übertreibe.) Und an wie vielen Einkaufszentren man in dieser Stunde vorbeifährt! Supermärkte, die mehr Milch horten, als man je trinken kann: kein, wenig, viel Fett; Wein in den Regalen, nach Herkunft sortiert. Überall Filme mit Untertiteln, die beweisen, dass die Lesegeschwindigkeit der Bangkoker im Vergleich zu früher gestiegen ist. Und eine ganze Generation von zurückgekehrten Auswanderern, die keine Untertitel mehr brauchen. Englisch ist überall.
Manchmal auch so: LADIES ARE REQUESTED NOT TO HAVE CHILDREN IN THE BAR - zu lesen in einem Hotel. In wenigen Jahrzehnten hat sich Bangkok von einer isolierten Provinzstadt in eine internationale und umtriebige Stadt verwandelt, der unberührte ländliche Raum wurde für Investitionen geöffnet.
Plötzlich erschien Altgewohntes in neuem Gewand und gab neue Einsichten frei - viele davon ein Foto wert: ein Mönch mit Mobiltelefon und Dunkin’ Donuts-Tasche; eine Muslimin an der Kasse mit einem Santa-Hut; ein Volksschüler, der sich von iTunes geladene Musik anhört; ein Straßenkehrer, der mit einer Burger-Styroporschachtel Golf spielt . . .
Kulturen prallen aufeinander und anscheinend hat der Westen den Kampf gegen den Osten gewonnen. Und dennoch, immer noch findet man alte Thai-Kultur an Orten, an denen man sie nicht vermutet. Nicht die Light&Sound- Spektakel der Touristenbehörde, sondern Traditionen, die hunderte Jahre überdauert haben und die Weihnachtsmann, Valentinstag und Internet überleben werden.
Die Fotografien von Josef Polleross haben die Erinnerung an diese Kultur, die ich verschollen glaubte, in mir wachgerufen. Es gibt sie noch.
"Thailand Triptychs"- so heißt der Bildband, den der österreichische Fotograf Josef Polleross imMichael Imhof Verlag, Petersberg,heuer herausgegeben hat. In diesem großen, querformatigen Buch stellt Polleross seine Arbeiten aus einem dreijährigen Thailand-Aufenthalt zusammen, wobei er die alte Form des Triptychons zugrunde legt: Drei Fotos zum selben Thema verbinden sich jeweils zu einer Einheit. So etwa das Chinesische Neujahrsfest in Bangkok (oben) oder die Arbeiter am Hafen (unten).Die Bilder werden ergänzt durch kurze Texte des britischen Schriftstellers Colin Cotterill, der in Thailand lebt. Sie sind im Band sowohl im englischen Original, als auch in der Übersetzung von Barbara Lutz enthalten. Hier sind zwei (gekürzte) Auszüge daraus zu lesen.