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Trotzdem: Happy Thanksgiving

Von David Ignatius

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Der Autor war Chefredakteur der "International Herald Tribune". Seine Kolumne erscheint auch in der "Washington Post".

In den USA wird beim heurigen Erntedankfest viel vom nationalen Niedergang die Rede sein. Die Geschichte zeigt aber, dass die Pessimisten am Ende immer unrecht hatten.


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Thanksgiving ist ein Lieblingsfeiertag in den USA, weil das eine Zeit ist, in der man seine Sorgen zur Seite schieben kann, ähnlich wie die Pilgerväter vor fast vier Jahrhunderten. Aber obwohl es beim Erntedankfest um optimistische Stimmungen geht und trotz unseres weltlichen Glaubens, dass der Kuchen von Jahr zu Jahr größer wird, möchte ich wetten, dass heuer an den sich biegenden Tischen viel vom nationalen Niedergang die Rede sein wird.

In letzter Zeit habe ich bereits einiges davon zu hören bekommen - von scheidenden Mitarbeitern aus dem Team von US-Präsident Barack Obama, von Politikern anderer Länder, von meiner Familie und meinen Freunden. Es geht ein Gefühl um, dass unser Leben einen Riss bekommen hat und niemand weiß, wie man das reparieren könnte.

Auch ich bin nicht gefeit gegen diesen Hang zu Untergangsstimmungen, aber gerade zu Thanksgiving, möchte ich doch auch Gründe für berechtigte Hoffnung auf den Tisch legen. Auf diese Gedanken hat mich mein Besuch in Harvard diese Woche gebracht. Dort, wo ich selbst vor 40 Jahren studierte, war ich eingeladen, ein Seminar zu halten.

Gegründet wurde die Universität Harvard 1636, nur 15 Jahre nach dem verzweifelten ersten Thanksgiving-Fest. Das sagt viel über die Gründer der USA, dass sie der Bildung einen so hohen Stellenwert einräumten: Auch mitten in der Wildnis wollten sie sich von Wissen und Vernunft leiten lassen.

Mit Sarah Palin ist es schick geworden, Harvard anzugreifen und seine Studenten als zu elitär hinzustellen. Auf dem Campus sieht man aber Studenten aus der ganzen Welt. Einen Harvard-Abschluss kann man sich im Gegensatz zu den meisten anderen Dingen im Leben nicht "richten". Nur die eigene Leistung zählt dort.

Darum drängen junge Menschen aus anderen Ländern in die USA, um dort zu studieren, nicht nur in Harvard, auch in hunderten anderen Universitäten. Es ist ein alter Traum der Menschheit, dass der Geist, nicht die Muskelkraft herrschen soll. Und die Tatsache, dass die USA die besten Hochschulen haben, zählt zu unseren größten Vorzügen. Sarah Palin sollte also besser vorsichtig sein, Eliteuniversitäten mit Schmutz zu bewerfen.

Und was nun die Untergangsstimmung 2010 betrifft, möchte ich sie einmal mit der Zeit meines Studiums vergleichen. Nicht heute, damals waren die USA ein wirklich traumatisiertes Land. Man bedenke: Der Vietnamkrieg wurde gerade verloren. Nicht nur um 100.000 US-Soldaten wie heute in Afghanistan ging es, sondern um 500.000. Und die Anzahl der getöteten Amerikaner betrug unvorstellbare 58.000.

Dazu setzte damals die "große Inflation" ein, eine Periode wirtschaftlicher Schwierigkeiten, die fast 15 Jahre dauerte. Meine erste Hypothek war mit Zinsen verbunden, die ungefähr dreimal so hoch waren wie Kreditzinsen heute. Und gleichzeitig litten die USA unter den Erschütterungen der sozialen Umwälzung der 60er. Nicht nur Frauen, Homosexuelle, Schwarze und Hispanics, sondern wir alle profitierten von der neuen Freiheit, aber für viele fühlte sich das damals wie ein Niedergang an.

In diesem Sinne: Happy Thanksgiving. Es gehört zu unserem Nationalcharakter als Bürger der USA, uns Sorgen über Verschlechterung und Not zu machen. Unsere Geschichte zeigt aber, dass -wenn wir uns an Vernunft, Freiheit und Kreativität gehalten haben - die Pessimisten am Ende immer unrecht hatten.

Originalfassung