Vor 800 Jahren legte der englische Hochadel die Basis für den modernen Rechtsstaat.
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Runnymede. Schön ist es hier, zumal an diesem milden englischen Sommertag. Gut, alle paar Minuten flirrt ein Düsenjet im Anflug auf Heathrow vorbei, vom Tierheim auf dem Hügel hört man Hunde heulen. Die "unberührte Landschaft", von der die Touristenbroschüre schwärmt, erlebt nur, wer sich die Ohren zustopft und nicht auf die Straße schaut, auf der dauernd Autos und Lastwagen mitten durch die Wiese tosen. Vielleicht sitzen deshalb die älteren Herrschaften so malerisch an der Themse, den Blick fest aufs andere Ufer des hier schmalen Flüsschens gewandt. Ihr Gehör wird auch nicht mehr das beste sein, wirken sie doch, als säßen sie schon ungefähr 800 Jahre an diesem Fleck.
Sie hätten dann miterlebt, wie sich die idyllische Wiese von Runnymede im Juni 1215 in ein Feldlager für tausende englische Hochadelige, ihre Streitkräfte und Bediensteten verwandelte. Bürgerkrieg lag in der Luft, dem ungeliebten König Johann auf der nahen Burg von Windsor gingen die Verbündeten aus. Der Hochadel verlangte Rechte, legte ein Papier, das Konzessionen des Königshauses an den Adel enthielt, vor. Tagelang ritten die Verhandlungsdelegationen hin und her, bis ein Kompromiss zustande kam, der den Adel zufriedenstellte. Am 15. Juni 1215 stellte sich der Monarch höchstselbst in Runnymede ein und verlieh dem Schriftstück Gültigkeit, indem er sein Siegel daranhängte - schreiben konnte der 48-Jährige nicht. Magna Carta war geboren, jene "große Charta", von der sich mit Recht sagen lässt, sie habe das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz etabliert.
Das galt natürlich nur für Adelige und Vermögende, von Bauern und Handwerkern, geschweige denn Frauen war nicht die Rede. Und doch stehen zwei der insgesamt 63 Klauseln des sperrigen Dokuments, in dem auch Fischreusen in der Themse und die Vormundschaft für minderjährige Erben erörtert werden, bis heute im englischen Gesetzbuch. Und Artikel 29 diente Jahrhunderte hindurch Aufständischen als Argument gegen die Tyrannei, wurde zur Grundlage von Verfassungen und Freiheitserklärungen: "Kein freier Mensch soll verhaftet, ins Gefängnis geworfen, seiner Güter beraubt, geächtet, verbannt oder auf andere Weise geschädigt werden, es sei denn durch das gesetzliche Urteil von Seinesgleichen oder nach dem örtlichen Gesetz."
Papier unter Panzerglas
An diesem Montag kam eigens Königin Elizabeth nach Runnymede und gedachte mit mehr als 1000 Ehrengästen des Moments, als der jahrhundertelange Wandel vom Gottesgnadentum zur konstitutionellen Monarchie begann. Rund um die Kathedralen von Lincoln und Salisbury, wo je eine der vier erhalten gebliebenen Kopien der Charta aufbewahrt wird, gibt es festliche Umzüge mit Musik und Feuerwerk. Und am Standort der beiden verbliebenen Pergamentstücke, der British Library, geht eine gelehrte Ausstellung der Wirkungsgeschichte des Augenblicks von Runnymede nach. Da liegt die Charta unter Panzerglas - "ein trübes, etwas hässlich aussehendes Ding, ohne Zeichnungen oder Randbemerkungen", wie die Autoren Danny Danziger und John Gillingham in ihrem vergnüglichen Buch "1215" urteilen.
Sowohl Ausstellung wie die schier unüberschaubare Fachliteratur erörtern auch die Vorgeschichte, die das Geschehen von Runnymede erst möglich machte. In der langen Geschichte englischer Monarchen gibt es zwar mancherlei Nichtskönner, Lüstlinge und Minderbemittelte, doch reicht an Johann niemand heran. "Selbst die Hölle wird noch schlimmer werden durch Johanns Anwesenheit", rief ein Zeitgenosse, der Chronist Matthew Paris, dem Verstorbenen hinterher. Der jüngste Sohn des legendären Plantagenet-Paares Heinrich II. und Eleonore von Aquitanien kam erst dem Vater, dann Bruder Richard Löwenherz in die Quere, ehe er 1199 selbst den Thron bestieg. Fünf Jahre später verdiente sich der Monarch den Spott-Namen "Ohneland": Auf einen Streich verlor Johann einen Großteil seines Besitzes auf dem Kontinent - unter Vater und Bruder hatte das Angevinische Reich noch von den Pyrenäen bis zur schottischen Grenze gereicht.
Dass er fortan seinen englischen Baronen immer neues Schildgeld abpresste, um vergebliche Feldzüge in Frankreich zu finanzieren, nahm ihm der anglo-normannische Adel übel, Magna Carta war die Folge. Das Dokument zur Disziplinierung des ungeliebten Königs hatte zunächst nur kurzzeitig Bestand. Auf Johanns Bitte hin erklärte Papst Innozenz III. noch 1215 die Charta für ungültig und drohte den Rebellen mit der Exkommunizierung. Der Bürgerkrieg, den das Abkommen von Runnymede doch verhindern sollte, war nun unvermeidlich. Die Barone boten dem französischen Prinzen Louis die Königskrone an, der König wich einer Konfrontation aus - da ereilte John im Oktober 1216 der Tod.
Die Berater seines Erben, des damals erst neunjährigen Heinrich III, waren klug genug, erneut den Kompromiss zu suchen. Die Charta, ein wenig umgeschrieben und gekürzt, erhielt neue Gültigkeit, wenig später war die Rebellion gescheitert. Dass Heinrich selbst sowie seine Erben im 13. Jahrhundert mehrfach die Gültigkeit des Dokuments bekräftigten, ermöglichte der Magna Carta den Durchbruch zur Grundlage englischen Regierungshandelns.
Denkmal aus den USA
In Runnymede weisen drei Denkmäler auf die weltweite Bedeutung der Ereignisse von 1215 hin. Zwei davon stammen aus Amerika: Der US-Anwaltsverein hat einen Stein zu Ehren des "Symbols der Freiheit im Recht" finanziert und mit einem schlichten Pagodenbau überdacht. Ein wenig weiter auf der Anhöhe über dem Themsetal steht ein grauer Granitblock in Erinnerung an den ermordeten Präsidenten John F. Kennedy (1917-63), dessen Antrittsrede 1961 "den Erfolg der Freiheit" beschwor, "koste es, was es wolle".
Das dritte, fast vergessene Denkmal stammt nicht etwa vom britischen Staat, sondern von einem stolzen Engländer - beinahe eine Allegorie auf die Stellung des Individuums gegenüber dem Staat. Paul Garrard weist uns darauf hin, der liebenswürdige Fremdenführer des National Trust. "Gehen Sie mal da auf die Bäume zu, dann finden Sie es schon", hat Garrard gesagt.
Links an den Mülltonnen hinter dem kleinen Kaffeehaus, jenseits eines kleinen Holzzauns auf einer Wiese am Waldrand findet man ihn: Im Schatten hinter einem Stacheldrahtzaun, verwahrlost und verwittert, steht der Stein, den ein obskurer Armeehauptmann in den 1930er Jahren bezahlte. Für den "bleibenden Nutzen des englischen Volkes" seien Bischöfe und Barone damals auf die Barrikaden gegangen, steht dort in kaum noch lesbarer Schrift. Zur Beseitigung eines Schreibfehlers ("comfirming") reichte wohl das Geld nicht mehr.