)
Nervenzellen im Gehirn lassen Zeugen vor Gericht falsche Sachverhalte berichten.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Berlin. Sie können Richter und Polizei zur Verzweiflung treiben: Zeugen von Verbrechen berichten manchmal von einem völlig falschen Sachverhalt, der aber offenbar fest in ihrer Erinnerung verankert ist. Wie sich nun herausstellt, ist das nicht böse Absicht, sondern daran, dass ihnen ihr Gedächtnis einen Streich spielt. Mit fatalen Konsequenzen: Von 250 US-Bürgern, die später durch einen DNA-Fingerabdruck entlastet wurden, waren drei Viertel in Verdacht geraten, weil Augenzeugen einen Gedächtnisfehler gemacht hatten.
Steve Ramirez und seine Kollegen vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) sind dem Phänomen mit einem raffinierten Experiment auf den Grund gegangen. Sie pflanzten Mäusen falsche Erinnerungen ein. Deren Entstehen sei auf ganz bestimmte Nervenzellen im Gehirn zurückzuführen, berichten die Forscher in "Science".
Fokus Hippocampus
Bekannt war, dass der Hippocampus beim Erinnern eine wichtige Rolle spielt. Menschliche Gehirnregionen können jedoch nur beobachtet, nicht getestet werden. "Am Menschen konnten weder die beteiligten Areale identifiziert werden, noch jene Nerven, die beim Entstehen einer falschen Erinnerung aktiv sind", fasst die Leiterin der Forschergruppe, Susuma Tonegawa, zusammen. Es blieb also nur der ethisch liberaler gehandhabte Tierversuch.
Die Wissenschafter untersuchten gentechnisch veränderte Mäuse. In jedem Tier konnten sie jene Nervenzellen im Hippocampus identifizieren, die bei der Erkundung eines neuen Käfigs "A" aktiv werden: Diese Nervenzellen sind spezifisch dafür zuständig, dass man sich eine neue Umgebung merkt. Die Forscher markierten die Zellen mit dem Protein Kanalrhodopsin-2.
In die Schädel der Tiere hatten sie zuvor Glasfasern implantiert, durch die sie Licht in den Hippocampus leiten konnten. Wird Kanalrhodopsin-2 mit blauem Licht bestrahlt, aktiviert die Substanz jene Nervenzellen, an denen sich das Protein gerade befindet. Die Forscher hatten einen molekularen Schalter in die Maus-Gehirne eingebaut, der gezielt die Nervenzellen anschaltet, die für die Erinnerung an Käfig A zuständig sind.
Am zweiten Tag setzten sie die Mäuse einzeln in einen anders aussehenden Käfig "B" und leiteten durch die Glasfasern blaues Licht in deren Hippocampus. Das Licht stimulierte sofort die Käfig- A-Gedächtnis-Nervenzellen. Zum Nachweis, dass sich die Tiere dabei wirklich an den am Vortag erkundeten Käfig A erinnerten, leiteten sie einen harmlosen, aber für die Tiere unangenehmen elektrischen Strom in das Gitter des Käfigbodens. Sollten die Mäuse sich dann durch die Lichtstimulation tatsächlich an Käfig A erinnern, könnten sie diese Erinnerung mit dem leichten elektrischen Schlag verknüpfen, war die Annahme der Forscher.
Am dritten Tag setzten sie die Mäuse zunächst wieder in Käfig A, in dem Tiere nie eine negative Erfahrung gemacht hatten. Dennoch zeigten die Mäuse ihre typische Angstreaktion, ohne dass Licht in ihr Gehirn geleitet worden war. In einem neuen Käfig C dagegen ängstigten sie sich viel seltener. Lenkten die Forscher aber auch im Käfig C blaues Licht in die Gedächtniszellen für Käfig A, kam die Angst vor Elektroschocks sofort wieder hoch.
Somit hatten die Forscher den Mäusen eine falsche Erinnerung eingepflanzt. Weil dabei die gleichen Nervenzellen aktiv sind, die beim ersten, harmlosen Erlebnis angeregt wurden, kommt die künstlich ausgelöste Erinnerung den Mäusen völlig real vor.
"Das Gleiche könnte Menschen passieren, die sich gerade an ein vergangenes Ereignis erinnern, während sie gegenwärtig ein gutes oder schlechtes Erlebnis haben", sagt Susuma Tonegawa. So wie die Mäuse könnten diese Menschen beides miteinander verknüpfen, obwohl in Wirklichkeit nie ein Zusammenhang bestand. Es entsteht eine falsche Erinnerung, die vor Gericht fatale Folgen haben könnte.