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Trügerische Ruhe im Westjordanland

Von WZ-Korrespondent Oren Geller

Politik

Hamas weiß die Fehler der Fatah zu nutzen. | Heimliche Freude über israelische Besatzer. | Ramallah. Auf den ersten Blick scheint es, als wäre die gewaltsame Übernahme des Gaza-Küstenstreifen durch die radikal-islamische Gruppierung Hamas spurlos an Ramallah vorbei gegangen. In der säkularen Fatah-Hochburg, Zentrum des palästinensischen Westjordanlandes, stehen die Geldwechsler an ihrem angestammten Platz, das wuselige Treiben in Hauptstadt geht weiter seinen gewohnten Gang, in der Geschäftsstraße ist kaum ein Durchkommen.


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Jamal Djuma, früher Mitglied der Kommunistischen Partei und ein vehementer Gegner der Grenzanlage, die Israel im Westjordanland errichtet, sieht die Ruhe mit Misstrauen: "Würde die Hamas die Kontrolle auch hier erlangen, wäre das für mich persönlich ein Desaster. Die Islamisierung würde dieser weltoffenen Stadt den Todesstoß versetzen", meint der Mittvierziger.

Seine Ängste sind begründet, denn in jeder größeren Stadt in den Palästinenser-Gebieten, in der die Islamisten die lokalen Angelegenheiten regeln, hat sich das Stadtbild radikal geändert: Kopftuch tragende Frauen, bärtige Männer und kein öffentlicher Ausschank von Alkohol sind nur die sichtbaren Veränderungen. Was nicht zu sehen ist, sind die geänderten Lehrpläne in den Schulen und die steigende Hetze gegen Andersdenkende.

Und dennoch hält Djuma viel von den palästinensischen Moslembrüdern. "Die Hamas ist nicht dumm", gibt der heutige Nationalist zu, "denn ihre Leute haben sich nie von der Macht korrumpieren lassen und sind weiterhin dem Kampf gegen Israel verpflichtet."

Erfolg durch Wohlfahrt

Seiner Meinung nach ist die Hamas durch Gründung von Wohlfahrtsorganisationen nur in das Vakuum vorgestoßen, das die palästinensische Autonomiebehörde hätte füllen sollen. Er zeigt auf den am Hang gelegenen Stadtteil A-Fira und erklärt, dass er nur aufgrund des Engagements der Bewohner ausgebaut und ordentlich hergerichtet wurde. "So wie diese Einwohner ihr Viertel selber geplant haben, ist die Hamas in andere Lebensbereiche eingedrungen. Sie hat eine Filiale auch hier in Ramallah gegründet und so leicht die Frustration der Palästinenser ausnutzen können, um an die Macht zu gelangen."

Nachdem die Islamisten die Hausherren in Gaza geworden sind, hat sich das Verhältnis der Autonomieregierung zu der Hamas jedoch radikal geändert. Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas erließ ein Dekret, in dem er alle Organisationen auflöste, die der Autonomieregierung nicht nahe stehen. Ein Informant aus dem Westjordanland, der nicht genannt werden möchte: "Binnen zwei Wochen sollten diese sogenannten NGO's eine Liste all ihrer Mitglieder vorlegen. So wollte die Verwaltung überprüfen, wer Hamas ist und wer nicht."

Seiner Meinung nach war dies ein gravierender Fehler - würden diese Organisationen verschwinden, würde ihre Arbeit sonst keiner machen. Einen weiteren Fehler hat sich die Fatah geleistet, als sie die Verbrennung von 200 Hamas-Besitztümern nicht nur zuließ, sondern auch selber forcierte. "Die Fatah hätte die Chance gehabt, sich als auf Einheit bedachten Sieger zu präsentieren, sie jedoch nicht genutzt", meint der Informant.

Hamas wird drangsaliert

Dennoch wünschen sich die Gesprächspartner nicht, dass der Hamas im Westjordanland ein Erfolg wie im Gaza-Streifen gelingt. Es scheint sogar, als würde mancher die militärische Präsenz der Israelis vorläufig begrüßen - allerdings nur hinter vorgehaltener Hand. Denn das israelische Militär führt weiter Festnahmen durch und verhaftet Hamas-Aktivisten, auch im Kerngebiet der Autonomiebehörde, was dem zaudernden Abbas sehr gelegen kommt. Offiziell gilt jedoch: Kampf um die Unabhängigkeit.

Fatah-Chef Abbas selbst tut gleichfalls einiges, um die Hamas klein zu halten: Kurz nach ihrer Machtergreifung im Gaza-Streifen verkündete er ein Dekret, in dem er bekannt gab, dass das Waffentragen nur den ihm unmittelbar unterstehenden Organisationen erlaubt sei. Die israelische Zeitung "Ha'aretz" berichtete von umfangreichen Waffenkonfiszierungen und von zahlreichen Festnahmen von Hamas-Aktivisten durch die präsidententreuen Sicherheitskräfte. Auch nahmen diese einen Hamas-Abgeordneten fest, der nach zwei Stunden wieder frei gelassen wurde.

Aber auch wenn Ramallah ruhig erscheint, beispielhaft für das gesamte Westjordanland ist es nicht. Das florierende Ramallah konnte nur deshalb wachsen, weil andere Wirtschaftszentren durch die Grenzanlage oder die zahlreichen Checkpoints, die das israelische Militär errichtet hat, nicht mehr so leicht zugänglich sind. Und außerhalb des Regierungssitzes kann die Hamas durchaus punkten - zuletzt dadurch, dass sie den britischen Journalisten Alan Johnston auf resolute Weise aus den Fängen einer halbmafiösen Großfamilie befreite. Damit signalisierte sie einmal mehr - anders als die Fatah - Tatkraft und Durchsetzungsvermögen.