In relativ kurzer Zeit viel Geld: Das wurde nach der Wende 1989 für so manchen Bewohner im ehemals kommunistisch regierten Mittel-Osteuropa Realität. Obwohl es auch zu KP-Zeiten eine schmale begüterte Oberschicht gegeben hat, hat die Zahl der Reichen nach dem Systemwechsel signifikant zugenommen. Eine Folge davon ist, dass man jetzt etwa bei unserem nördlichen Nachbarn Tschechien einem völlig neuen Problem gegenübersteht: Dem der Wohlstandsverwahrlosung, wobei die Betroffenen vor allem Jugendliche sind.
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"Ich bekomme 12.000 Kronen (400 Euro) im Monat", sagt Michal Blaha. Das entspricht ziemlich genau dem Durchschnittseinkommen in Tschechien, wäre also an sich nichts Besonderes. Allerdings: Der 18-Jährige arbeitet gar nicht sondern geht noch zur Schule und zwar in eines der teuren Privatgymnasien. Schnell wird klar: Blaha gehört zur schmalen Kaste der "Neureichen".
Dass manch ein Krankenpfleger oder auch Mittelschullehrer von soviel Geld nur träumen kann, lässt Michal kalt. Für ihn ist Reichtum ganz normal. Auch, dass er in der Lage ist, jeden Tag mit dem eigenen Auto zur Schule fahren zu können: "Ich weiß, dass ich mehr Geld habe als viele meiner Freunde. Aber das ist nicht wirklich wichtig, so ist das einfach."
Michal lebt in Cernosice, einem Ort etwa 20 Kilometer von Prag entfernt. Sein Vater ist seit dem Jahr 1991 Inhaber einer Werbefirma, gehört damit zum Kreis jener, die es "zu etwas gebracht" haben. "Natürlich ist es toll, dass ich mir das teuerste Skateboard leisten kann, dass ich gute Kleidung kaufen und mit dem Motorrad in die Clubs fahren kann", lässt Michal, der zum Interview selbstverständlich mit dem Wagen vorfährt, wissen. Vor allem der Herr Papa lässt sich in Geldsachen nicht lumpen: Er hilft dem Filius gerne einmal aus, ohne enervierende Fragen zu stellen. "Meine Mutter ist da schlimmer. Sie ist lästig und will, dass ich das Geld für einen Sprachkurs in England sparen soll", beschwert sich Michal.
Soziologen bestätigen den Trend: Es gibt in Tschechien immer mehr reiche Minderjährige, man findet sie speziell in Prag und den umliegenden Orten, die "Luxus-Satelliten" genannt werden. Die Eltern dieser Kinder sind oft Geschäftsleute und Anwälte, wobei bei einigen nicht so ganz klar ist, wie sie eigentlich zu ihrem Geld gekommen sind. Oft handelt es sich bei den Begüterten auch um Remigranten, die ihre Heimat unter KP-Zeiten verlassen haben, im Westen erfolgreich waren und nach der "Samtenen Revolution" millionenschwer zurückkehrten.
In Tschechien werden Leute wie Michal Blaha Angehörige der "Jugend aus Gold" genannt. Dabei lässt sich ganz klar die Kategorie "Neureich" vom eingesessenen "Geldadel" unterscheiden: "In den traditionell reichen Familien - und auch die gibt es bei uns - herrscht die Überzeugung vor, dass das Vermögen gespart werden muss. Diese Leute legen ganz strenge Maßstäbe an, wie der Mammon auszugeben oder zu investieren ist", weiß der tschechische Soziologe Petr Freiman, der sich mit dem Phänomen in den letzten Jahren eingehend beschäftigt hat.
Michal Blaha bestreitet, zur "Goldenen Jugend" zu gehören. Für deren Markenzeichen, der Abhaltung rauschender Feste und ähnlich dekadenter Lustbarkeiten habe er nämlich "keine Zeit". Michal spielt lieber Tennis, fährt Skateboard und seit dem vergangenen Jahr verbringt er jeden zweiten Tag in einer nahe gelegenen Ranch, wo er sein eigenes Pferd untergebracht hat.
"Dass mein Vater viel Geld hat heißt nicht, dass ich in teuren Hotels zu Prostituierten gehe, in einem Mercedes mit 240 Kilometer in der Stunde über die Autobahn jage, Drogen schlucke, oder mir kiloweise Gold um den Hals hänge", weist der sympathische Braungelockte etwaige Verdächtigungen prompt von sich. "Lieber buche ich einige Tennisplätze für mich und meine Freunde, dort ziehen wir dann eine Show ab und beeindrucken so die Mädels."
Den Lebensstil vieler Neureicher in seinem Land würde er durchaus als "ultra-konsumistisch" charakterisieren, meint dagegen Jan, der ebenfalls aus begütertem Hause stammt. Gartenpartys, Feste in Luxus-Appartements und teuren Restaurants, dicke Autos, die beste und teuerste Kleidung und ein Haufen Freundinnen: All das ist laut Jan "Teil des Spiels": "Wenn dir plötzlich das Geld ausgeht, dann verlierst du deine Position", weiß er.
Und worum geht es bei dem von Jan erwähnten "Spiel"? "Um nichts. Man zeigt einfach, dass man in der Lage ist, alles zu besitzen", sieht der Jugendliche den Lebensstil vieler Gutsituierter kritisch.
Folge ist eine gewisse innere Leere, die kompensiert werden will: Der Lebenszweck für viele reiche Tschechen besteht laut Jan darin, möglichst oft und viel "Spaß" zu haben. Dabei wird das Bedürfnis nach Zerstreuung bisweilen in extreme Bahnen gelenkt. Geld spielt hier eine gewisse Rolle, ist aber manchmal nicht unbedingt nötig: So veranstaltet die tschechische "Jeunesse d'oree" gelegentlich Auto-Hetzjagden in den Städten, wobei sich die Rennen in der Regel durch hohes Risiko und Rücksichtslosigkeit auszeichnen.
Was nicht ohne Folgen bleibt: So geschah es vor kurzem in der südböhmischen Stadt Susice, dass zwei junge Leute bei der Ausübung des riskanten Sports direkt in den Tod gefahren sind. Der gesamten Einwohnerschaft von Susice war, wie die Polizei weiß, schon lange vor dem Unfall bekannt, dass eine Gruppe von Jugendlichen Nacht für Nacht in selbstmörderischem Tempo durch die Gegend rast. Trotzdem wagte es niemand, etwas gegen die Eskapaden der Übermütigen zu unternehmen.
"Sie suchen das Abenteuer, den 'Kick', ein hohes Maß an Adrenalin-Ausschüttung. Und das möglichst sofort", so die Psychologin Magdalena Frouzova zum Seelenleben ihrer Klienten. "Sie kümmern sich nicht um die Zukunft, sie leben nur für das Hier und Jetzt. Manchmal missbrauchen sie Drogen, manchmal hängen sie extremen Sportarten an."
Zu letzterem zählen Unternehmungen wie etwa das Aufspringen auf die Kupplung zwischen zwei U-Bahn-Waggons während der Fahrt, das für den Lenker unerwartete Überqueren von Straßen bei vollem Verkehr, Balancieren auf hoch gelegenen Brückengeländern. Manche lassen sich mit Rollschuhen von Bussen oder Trams mitziehen.
"Wir haben damals in der Tat merkwürdige Aktivitäten entwickelt", erinnert sich Jan. Dazu gehörte etwa das Stehlen eines Teils der Gleisanlage in Bahnhöfen.
"Die millionenschwere Elite hat bei uns kaum Zeit, sich um ihre Sprösslinge zu kümmern", so Frouzova über die auch für den "Westen" zutreffenden Ursachen der Wohlstandsverwahrlosung. "Die Kinder sind allein. Sie schlafen bis 10 oder 11 Uhr vormittags. Das können sie sich leisten, weil sie ja Privatschulen besuchen, wo man es, solange das Geld pünktlich überwiesen wird, mit der Disziplin nicht so ernst nimmt", meint Frouzova. Man hat also ausgiebig Gelegenheit, sich in den Clubs herumzutreiben, auch wenn man am nächsten Tag eigentlich zur Schule gehen sollte. Manche von ihren Patienten würde die Psychologin als "schon in jungen Jahren gescheiterte Existenzen" bezeichnen. "Vor allem die, die zusätzlich auch noch Drogen nehmen."
"Das ist eben das Problem. Wenn Du ohne etwas dafür zu tun zu viel Geld hast, dann verlierst du leicht die Motivation, den Sinn des Lebens", legt Jan seine Sicht der Dinge dar. Über sich selbst meint er übrigens, dass sein Leben im Altersabschnitt von 15 bis 20 Jahren "geschrumpft" sei. Jan gibt offen zu, er wisse derzeit nicht, in welche Richtung er sein verpfuschtes Leben lenken soll.