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Tschechische Mythen

Von Niklas Perzi

Reflexionen

Im Lauf des 20. Jahrhunderts folgte in Tschechien eine nationale Selbstdeutung auf die andere - was der politischen Kultur des Landes nicht nur gut getan hat.


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Tomás Garrigue Masaryk, der erste Präsident der Tschechoslowakei, hier auf einem Denkmal vor der Brünner Universität, die seinen Namen trägt.
© Demotix/Corbis/Tomas Hajek

Prag 7, Holesovice, den meisten Besuchern der Stadt wohl nur durch den Bahnhof bekannt, in dem Züge aus ganz Europa einfahren. Mitten durch das Viertel führt die Milada Horáková-Straße hinauf zum großen Letná-Plateau, vorbei an grauen Zinshäusern, die an Wiener Gemeindebauten der Zwischenkriegszeit erinnern.

Der große Aufschwung

Während die Donau-Metropole jedoch nach 1918 an Bedeutung und Bevölkerung verlor, erlebte Prag nach der Ernennung zur Hauptstadt der neuen Tschechoslowakischen Republik einen ungeheuren Aufschwung und Bauboom. Der slowenische Otto Wagner-Schüler Jože Plečnik gestaltete auf Einladung des neuen Staatspräsidenten Tomás Garrigue Masaryk die Prager Burg um, die junge tschechische Architektengarde fand Beschäftigung bei der Errichtung der neuen, am Reißbrett geplanten Stadtviertel, in der die Beamten der Zentralbürokratie, die Angestellten der Firmen- und Bankzentralen, die Lehrer und Professoren ihre Wohnungen bezogen. Dieser "kleine tschechische Mensch" sollte Träger des neuen Staates und seiner Idee werden, die Masaryk in der südböhmischen Stadt Tabor in Anspielung an deren Jahrhunderte weit zurückliegende, revolutionäre, demokratische, militant-hussitische Vergangenheit mit dem Satz "Tabor ist unser Programm" zusammenfasste.

Der unter dem offiziösen Schlagwort der "Entösterreicherung" firmierenden Abrechnung mit der zum Objekt der Verachtung gewordenen Habsburger-Monarchie sollte die mit "Rom" folgen. Die neue, aus Tschechen und Slowaken gebildete Einheits-Na- tion (er-)dachte sich Masaryk als eine des Fortschrittes, der Humanität und Demokratie. Vier Millionen Deutsche, Ungarn und Polen sollten am Aufbau eines Staates mitwirken, in dessen Namen sie nicht vorkamen.

Über die Dächer der Wohnhäuser von Holesovice ragt ein grauer, düster wirkender Kelch hervor, der auf einem Wohnhaus steht, das zugleich Kirchenhaus ist. Der Kelch ist das Symbol der Tschechoslowakischen Kirche, die sich 1920 von Rom mit dem Anspruch zur Nationalkirche der "Tschechoslowaken" zu werden, lossagte und dabei auch an Jan Hus anzuknüpfen suchte. Im Altarraum steht neben der Fahne mit dem Kelch eine tschechoslowakische Standarte. Wie vieles in der Tschechoslowakischen Ersten Republik blieb der Anspruch dieser Kirche jedoch Makulatur, vollzog doch nicht einmal die Mehrheit der oft antikatholischen Tschechen den Übertritt.

Neue Loyalitäten

Das Festhalten der tschechischen Gründerväter der Republik an ihrer nationalen Meistererzählung führte nicht zur angestrebten Verschmelzung, sondern zur Entfremdung der mehrheitlich katholisch-konservativen Slowaken mit dem paternalistisch auftretenden großen tschechischen Bruder. Der Publizist Ferdinand Peroutka wies ironisierend darauf hin, dass die Tschechen des 20. Jahrhunderts nicht Nachfolger der Hussiten, sondern bis vor kurzem noch treue Untertanen seiner Majestät des Kaisers gewesen waren. Er drückte aus, was wohl auch Masaryk ahnte, wenn er jetzt mit Politikern und Beamten zusammenarbeiten musste, die noch wenige Monate zuvor seine Unabhängigkeitsbemühungen mit Loyalitätserklärungen zum Habsburgerreich beantwortet hatten. Sein Gang ins Exil, den er, schon 68-jährig, als Abgeordneter der von ihm gegründeten Realisten-Partei im Wiener Reichsrat im Dezember 1914 angetreten hatte, war ein einsamer gewesen, nur der 30-jährige Prager Soziologe Edvard Benes folgte ihm nach.

Den tschechischen Legionen, die im Rahmen der französischen, italienischen und russischen Armee an der Seite der Entente kämpften, schlossen sich zwar zehntausende Tschechen und Slowaken aus der k.u.k. Armee an, doch blieben sie bis in die letzten Tage des großen Krieges hinein eine Minderheit gegenüber den 90 Prozent loyalen Mannschaften. Während die in Prag zurückgebliebene Ehefrau Masaryks unter Hausarrest stand und der Vater im Exil gegen die Monarchie kämpfte, diente ihr Sohn Jan als österreichischer Offizier.

Die tiefe Spaltung

Als Masaryk am 500. Jahrestag der Verbrennung von Jan Hus in Genf sein Programm präsentierte, wurde gleichzeitig in Prag mit Genehmigung der Behörden das große Hus-Denkmal am Altstädter Ring enthüllt. Die tschechischen politischen Eliten entschieden sich aus Überzeugung, Anpassung und der Strategie des Abwartens für Österreich und hielten daneben Kontakt zum Exil, das bald unter dem Generalverdacht des Hochverrats stehende Volk war führungs- und oft auch orientierungslos.

Nach dem Krieg diente die nicht mehr existierende Monarchie als willkommener Außenfeind, um die tiefe Spaltung, die der Krieg und die Frage der Loyalitäten für die Eliten mit sich gebracht hatten, vergessen zu machen. Der vorher eher belächelte und während des Krieges verfemte Masaryk wurde als "Präsident der Republik" zum Ersatzmonarchen. Wie der alte Kaiser Franz Joseph zeigte er sich gern hoch zu Ross und schlief im eisernen Feldbett. Der noch zu Lebzeiten gepflegte Kult um ihn nahm zeitweilig groteske Formen an.

Die weitgehende Absenz der anderen Nationalitäten in der politischen Realverfassung tat der Ersten Tschechoslowakischen Republik nicht gut. Neben den nicht gelösten, in den 30er Jahren angeheizten Konflikt mit Deutschen und Ungarn trat das Problem, dass auch die Slowaken nicht in das Staatsvolk hineinwuchsen.

Die Auflösung des Staates vollzog sich in Etappen: Zunächst wurde Edvard Benes, der seinem greisen Vorbild in das Präsidentenamt nachgefolgt war, im Herbst 1938 gezwungen, dem Dritten Reich die (sudeten-)deutschen Randgebiet nach dem Münchner Abkommen abzutreten, dann kamen die Ungarn und Polen mit ihren Forderungen.

Benes musste ins Exil gehen, begleitet vom Hohn und Spott der neuen Machthaber und von nicht wenigen der ihm eben noch huldigenden Landsleute als Alleinschuldiger an der Katastrophe von "München" angefeindet. Die hochgerüstete Armee einzusetzen weigerte er sich im Wissen, dass er damit zum "Kriegstreiber" gemacht würde. Er traf damit eine Entscheidung, die zwar politisch klug war, jedoch zu einer tiefen Demoralisierung der tschechischen Gesellschaft führte.

Als nach dem Zwischenspiel der von Deutschland abhängigen "Zweiten Republik" im März 1939 die Truppen der Wehrmacht in Prag einrückten und die Slowakei sich für unabhängig erklärte, war der Schock für viele geringer als im Herbst zuvor. Nicht Prag 1939, "München" war und ist der heiß umkämpfte Symbolort der Niederlage; die Frage "ob wir uns hätten wehren sollen" ist auch 75 Jahre danach ein Dauerbrenner.

Das Protektorat

Der neue Präsident Emil Hácha, der seine Karriere als altösterreichischer Verwaltungsbeamter begonnen hatte, erging sich in Ergebenheitserklärungen gegenüber den neuen Mächtigen, die das "Protektorat Böhmen und Mähren" ausriefen. Seiner "nationalen Gemeinschaft", die zur Ruhe und Besonnenheit riet, traten fast 100 Prozent der Tschechen bei. Das Dritte Reich reduzierte ihre Rolle auf die von Lieferanten von Waffen, Industriegütern und Getreide. Die geheimen Verbindungen Háchas und der Seinigen zum Benes-Exil wurden bald aufgedeckt und unter dem stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich hart bestraft.

Als die Judenverfolgung das Protektorat erreichte, wurde der Bahnhof Prag-Bubna in Holesovice zum Ausgangspunkt der Transporte ins "Ghetto" Theresienstadt (Terezín). Als Begleitmannschaften setzten die deutschen Besatzer die tschechische Polizei und Gendarmerie ein, die auch den Außenring in Theresienstadt absicherten. Der Dienst war finanziell attraktiv, stellte die Beamten aber vor ein unauflösbares moralisches Dilemma, das die Lage der Menschen im Protektorat widerspiegelte. Wiederum sah sich der "kleine tschechische Mensch" zwischen den widersprüchlichen Weisungen seiner Eliten zu Hause und im Exil hin- und hergerissen, setzte auf symbolischen Widerstand und Abwarten. Wer aufbegehrte, riskierte sein Leben. Nach dem Attentat auf Heydrich zu prodeutschen Loyalitätskundgebungen aufgerufen, versammelten sich Zehntausende am Wenzelsplatz und schlossen Benes deklarativ aus der Nation aus.

Gegenüber von Holesovice, am anderen Moldau-Ufer, ragt hinter der Altstadt der Vítkov-Hügel empor. Die monumentale Statue des einäugigen hussitischen Heerführers Jan Žižka, deren Errichtung noch in der Monarchie geplant wurde, konnte erst zu Zeiten des Protektorats fertiggestellt und nach dem Krieg an seinen Bestimmungsort gebracht werden. Die hier beigesetzten unbekannten Soldaten wechselten mit den Regimen. In dem nach 1918 als Denkmal der Befreiung konzipierten Pantheon und Mausoleum wurden nach 1950 die sterblichen Überreste der aus der Kommunistischen Partei kommenden "Arbeiterpräsidenten" beigesetzt.

Nach deren Entfernung in den 1990er Jahren verkam die Gedenkstätte zum Ort wilder postrevolutionärer Partys, bis sie vom Nationalmuseum übernommen und zur Museums- und Gedenkstätte rückgebaut wurde. Alljährlich wird am 28. Oktober mit der Erinnerung an die Errichtung der Tschechoslowakei eines Staates gedacht, der bereit seit mehr als 20 Jahren nicht mehr existiert.

Die nach der "Samtenen Revolution" versuchte Anknüpfung an die als goldene Ära verklärte Vorkriegsrepublik gelang weder real, noch in der Identität stiftenden politischen Symbolik. Der jährliche Aufmarsch der Masaryk und Benes verehrenden Veteranenverbände mit ihren Fahnen und Standarten wirkt innerhalb einer Stadt, in der die Hektik den spätsozialistischen Schlendrian abgelöst hat und man so vieles in so kurzer Zeit auf- und nachholen wollte, wie ein Relikt aus der Vorzeit. Die Menschen pilgern an den nationalen Feiertagen nicht zu den nach 1989 halbherzig wieder belebten Gedenkstätten, sondern in die neuen Einkaufszentren. Auch wenn 100 Jahre nach Ausbruch des Weltkrieges der Gründungsmythos wieder belebt werden soll, bleibt dies ein gesellschaftliches Randthema.

Der Sozialismus

Im Mittelpunkt des historischen Interesses und der "Vergangenheitsbewältigung" stehen nicht die Erste Republik und die vielen Grauzonen des Lebens im Protektorat, sondern das nicht mehr erwünschte Erbe des real untergegangen Sozialismus. Die Kommunistische Partei konnte 1946 ihren einzigen jemals in Europa errungenen Wahlsieg in Böhmen und Mähren feiern. Der 1938 mit Schimpf und Schande aus dem Land gejagte Benes war zuvor 1945 als Staatspräsident triumphal ins Land zurückgekehrt und hatte zur Entgermanisierung aufgerufen, die im Gegensatz zur Entösterreicherung diesmal sehr reale Formen annahm. Mit der Aussiedelung der Deutschen sollte das während der Okkupation im Widerstreit der Loyalitäten gespaltene Volk durch die Beseitigung des gemeinsamen Außenfeindes wieder geeint werden.

Gewinner der Nationalisierung waren die Kommunisten, die ihre internationalistische Vergangenheit über Bord warfen, zwar spät, aber umso radikaler auf den nationalen Zug aufsprangen und sich als Vollender der Traditionen des "kleinen tschechischen Menschen" präsentierten. Nach derer vom kränkelnden Benes im Februar 1948 sanktionierten totalen Machtübernahme wurde die Republik zum Musterland des Stalinismus. Die Außenfeinde waren abhanden gekommen, die Abrechnung richtete sich nunmehr gegen vermeintliche und tatsächliche Gegner im eigenen Volk. Milada Horáková, die das deutsche Konzentrationslager überlebt hatte, wurde als Abgeordnete der kleinbürgerlichen tschechischen nationalen Sozialisten 1950 nach einem Schauprozess hingerichtet. Die junge intellektuelle und literarische Elite des Volkes beteiligte sich einstweilen begeistert am Aufbau des Sozialismus. Die Büsten und Denkmäler der noch vor kurzem auch von den Kommunisten anerkannten Staatsgründer wurden zerstört. Am Letná-Pla- teau entstand 1955 das weltweit größte Stalin-Denkmal. Es musste jedoch bereits sieben Jahre später im Zuge der Entstalinisierung wieder abgetragen werden.

Die jungen Stalinisten der 1950er Jahre wurden zu den Trägern der Reformen in den 60ern. Im "Prager Frühling" leisteten sie gegenüber der Parteiführung um Alexander Dubček, die nach der sowjetischen Okkupation zu Besonnenheit und Anpassung aufrief und dennoch scheibchenweise abmontiert wurde, erbitterten Widerstand. Der neue, von Moskau installierte Parteichef Gustav Husák konnte mit einem repressiven, jedoch auf soziale Sicherheit bedachten Kurs relativ bald "Normalität" herstellen.

Das durch die Nachgiebigkeit der eben noch als Helden gefeierten Reformpolitiker orientierungs- und führungslos gewordene Volk stellte sich auf die Verhältnisse ein und befolgte die Mindestanforderungen an Loyalität, die das Regime verlangte. Das Letná-Plateau wurde zum Aufmarschgebiet der gigantomanisch-sterilen 1.-Mai-Feiern.

Den wenigen Oppositionellen begegnete man mit einer Mischung aus Bewunderung, Verachtung und schlechtem Gewissen. Als 1977 die Bürgerrechtsbewegung "Charta 77" gegründet wurde, unterschrieb die künstlerische Elite der Nation die unter dem Namen "Anticharta" bekannt gewordene Verurteilung der "Gescheiterten und Selbstberufenen", wie ihre in den Untergrund gedrängten Kollegen in der Parteizeitung apostrophiert wurden.

Havels Leistung

Einer von ihnen war Václav Havel, der im Spätherbst 1989 einen erstaunlichen Aufstieg vom am Rande der Gesellschaft lebenden Dissidenten zum (kurzzeitigen) Liebling der Nation erleben sollte. Havel sah sich als Präsident in der Nachfolge von Masaryk. Vielleicht dachte er auch an dessen Umgang mit der Vergangenheit, als er anstatt auf Abrechnung mit den "geläuterten" Mitläufern des Ancien Regime auf deren Einbindung setzte.

Die nächsten Jahre standen im Zeichen des Antikommunismus. Die neue nationale Meistererzählung war aber die vom "Bolschewismus" als sowjetischer Importware, die der demokratischen Nation aufgedrängt wurde und sich 40 Jahre lang nur durch Gewalt an der Macht hielt. Die vielen fein gesponnenen ideologischen und materiellen Netze, die zur Herrschaftssicherung beigetragen und die Menschen einbezogen und kompromittiert hatten, blieben dabei ausgespart.

Erst langsam stellt man sich der Frage, ob man nicht auch selber Teil der viel zitierten "oní" gewesen war - "oní", das sind "sie", die anderen, die das Regime gestützt haben, im Gegensatz zum eigenen Leben und Tun.

Niklas Perzi, geboren 1970, ist Historiker und Publizist mit dem Schwerpunkt Geschichte der Böhmischen Länder im 20. Jahrhundert. Letzte Veröffentlichung: "So nah - So fern. Menschen im Waldviertel und in Südböhmen" (Verlag Bibliothek der Provinz, Weitra).