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Seit der Jahrhundertkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 sind Millionen Menschen immer noch permanenter nuklearer Strahlung ausgesetzt. Die Folge ist, dass die Krebsrate den europäischen Durchschnitt um ein 16-faches übersteigt. Eine Tragödie, die dadurch verschärft wird, dass die medizinische Versorgung in den betroffenen Gebieten mehr als mangelhaft funktioniert.
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"Lenins Partei wird den Kommunismus zur Vollendung führen", prangt in großen Lettern an der Fassade eines Plattenbaus im ukrainischen Prjpyat. Auf einem über zehn Stockwerke hohen Haus sind Hammer und Sichel montiert, ganz so, wie zu KP-Zeiten in der ehemaligen UdSSR üblich. Eine gespenstische Stille liegt über der Satellitenstadt unweit des Unglücksreaktors von Tschernobyl, in der bis zum 27. April 1986 50.000 vorwiegend junge Menschen gewohnt haben. Die Straßen sind leergefegt, an den Fenstern lässt sich keine Menschenseele blicken.
Evakuiert für immer
In jener Nacht vom 26. auf den 27. April 1986, als im Kernkraftwerk Tschernobyl der Reaktorblock 4 in die Luft ging, lagen die Bewohner von Prjpyat nichts ahnend in ihren Betten, erzählt ein Kraftwerks-Beschäftigter, der eine Gruppe österreichischer Journalisten durch die Geisterstadt führt. Am nächsten Morgen machten Gerüchte die Runde, es war den meisten klar, dass etwas passiert war, doch niemand wusste Genaues. Als die radioaktive Strahlung schließlich in astronomische Höhen schnellte, ordnete Moskau die sofortige Evakuierung der Einwohner Prjpyats an, 1000 Busse wurden in die Stadt dirigiert. Offiziell hieß es, die Bewohner könnten nach drei Tagen zurück, nur das Notwendigste sei mitzunehmen. Tatsächlich sind die Betonmauern Prjpyats derart radioaktiv verseucht, dass es für die nächsten Jahrhunderte unbewohnbar ist.
In einem Radius von 30 Kilometern haben die Behörden eine Sperrzone um Tschernobyl errichtet, man wird an gut bewachten Check-Points kontrolliert. Die Bevölkerung ist hier längst abgesiedelt, in dem Gebiet um das Kraftwerk herum lässt sich daher kaum eine Menschenseele blicken.
Anders unmittelbar in und um das Kraftwerk: Hier arbeiten immer noch 4.000 Menschen an der Aufrechterhaltung eines Betriebs, den es nicht mehr gibt. Denn im Dezember des Jahres 2000 wurde der letzte Reaktorblock in Tschernobyl für immer geschlossen. Insgesamt 460 Arbeiter sind jetzt mit Stabilisierungsarbeiten im von einem Sarkophag ummantelten Unglücksreaktor beschäftigt und damit regelmäßig relativ hoher Strahlung ausgesetzt, der Rest der Bediensteten arbeitet in der Verwaltung. Obwohl offizielle Stellen den Einsatz in Tschernobyl für unbedenklich halten, seien bereits erfolgte gesundheitliche Schädigungen offensichtlich, erklärt ein Rotkreuz-Mitarbeiter.
Wohnhaft in Atom-Zone
Je nach der Höhe der Strahlungswerte sind die verseuchten Gebiete um das Kernkraftwerk in vier Zonen eingeteilt: In Zone Drei etwa liegen die Werte zwischen 15 und 40 Curie pro Quadratkilometer. Für dieses Gebiet hat die ukrainische Regierung die Aussiedelung empfohlen - stattgefunden hat sie aus Mangel an anderen Wohnmöglichkeiten de facto nicht. In der Zone Vier werden Werte von 40 und mehr Curie pro Quadratkilometer registriert: Hier wurde die Aussiedlung angeordnet, dennoch leben nach Rotkreuz-Angaben nach wie vor Menschen in diesen Gebieten.
Brandgeruch in der Luft
"Bei mir wurde nur wenig Strahlung gemessen", meint Pjotr, Jahrgang 1939, der mit seiner Frau knapp vor der streng bewachten Sperrzone in einem schäbigen, eingeschossigen Haus wohnt. Angst hat der Mann, dem man die harte Arbeit auf den umliegenden Feldern ansieht, angeblich nie gehabt. Auch, dass alle seine Nachbarn die kleine Siedlung mittlerweile verlassen haben, bringt ihn nicht aus der Ruhe. In der Nacht des Unglücks habe er die Sirenen der Einsatzfahrzeuge gehört, und am Morgen darauf sei ein verbrannter Geruch in der Luft gelegen. Ob er sich an irgendwelche Maßnahmen erinnern könne, die die Regierung damals gesetzt habe? Man habe ihm empfohlen, im Haus zu bleiben und die Fenster zu schließen, meint der Mann nach längerer Nachdenkpause. Und irgendwann während der Monate nach dem Unglück habe man die Außenseite seines Hauses mit Wasser abgespritzt.
Insgesamt gelten nach offiziellen Angaben seit der Reaktorkatastrophe 20 Prozent der Fläche der Ukraine und 20 Prozent Weißrusslands - hier vor allem der Süden - sowie die angrenzenden russischen Gebiete als radioaktiv verstrahlt. Rund 5,5 Millionen Menschen sind davon betroffen. Der Anteil derer, die an Schilddrüsenkrebs leiden, ist weltweit hier am höchsten. Er liegt beim 16-fachen des europäischen Durchschnitts. Zur Risikogruppe zählen diejenigen, die zum Zeitpunkt der Katastrophe Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren waren oder sich noch ungeboren im Mutterleib befanden. Überproportional betroffen sind auch Frauen, die zum Zeitpunkt des Unglücks älter als 50 waren.
Krebs im Zunehmen
Jeder im verstrahlten Gebiet ist sein ganzes Leben lang durch Krebs gefährdet, erklärt der junge Arzt Artur Grigorowitsch, der in einem Spital im südlichen Weißrussland regelmäßig Vorsorgeuntersuchungen mit einem speziellen Durchleuchtungs-Gerät durchführt. Schuld daran ist hauptsächlich die kurzfristig extrem hohe Jodbelastung, der die Menschen unmittelbar nach dem Super-Gau ausgesetzt waren. Laut Grigorowitsch nimmt die Zahl der Erkrankungen jedes Jahr zu, die Auswirkungen der Verstrahlung werden erst in hundert Jahren überwunden sein, ist er überzeugt.
Die Durchleuchtungs-Geräte zur Vorsorge-Untersuchung werden via Kleinbussen auch in die ländlichen Gebiete gebracht, zu den Leuten, die von selber nicht in das Kreisspital kommen würden. Das Österreichische Rote Kreuz hilft mit, um diese oft lebensrettenden Maßnahmen überhaupt möglich zu machen, indem es Ausrüstung und einen Teil der Gehälter des medizinischen Personals zur Verfügung stellt. Seit 1997, als Grigorowitschs Team die Arbeit aufnahm, wurden 98.000 Personen per Ultraschall getestet. 236 Fälle von Schilddrüsenkrebs wurden in der Region bisher entdeckt. Wird der Ausbruch der Krankheit rechtzeitig erkannt, dann besteht gute Hoffnung auf Heilung, darauf weist Griegorowitsch immer wieder hin: Von 800 Früherkennungen seien in den letzten Jahren nur vier der Patienten gestorben.
Ungewissheit
Bei der Beurteilung der Langzeit-Folgen des Unglücks versuchen sich die Ärzte an den Erfahrungen zu orientieren, die man in Japan nach dem Atombomben-Abwurf in Hiroshima gewonnen hat: Demnach ist künftig der Anstieg von Brust- und Lungenkrebs-Fällen nicht auszuschließen. Wo die finanziellen Mittel für geeignetes medizinisches Gerät herkommen sollen, weiß hier niemand.