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Tschernobyl, ein Wetterleuchten für die Sowjetunion

Von Gerhard Lechner

Analysen

Die Atomkatastrophe legte die Schwächen des KP-Systems offen und erschütterte das Selbstbild der UdSSR.


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Anatoli Stepanowitsch Djatlow war kein Mann, der das Risiko scheute. Der Russe, der 1931 in der Region Krasnojarsk geboren worden war, riss im Alter von 14 Jahren von zu Hause aus. Er studierte in Moskau, wurde Physiker und baute in den 1960er Jahren Atomreaktoren in U-Boote ein. Dabei kam es zu einem atomaren Unfall. Djatlow, der dabei einer großen Strahlendosis ausgesetzt war, soll für die Havarie verantwortlich gewesen sein - nachgewiesen wurde ihm das nicht.

Der Physiker überlebte den Atom-Unfall. Doch sein Sohn starb kurz darauf an Leukämie - ein Schicksalsschlag, der den eigensinnigen Djatlow noch halsstarriger werden ließ. 1973 zog er in die Stadt Prypjat in die damalige Sowjet-Ukraine. Er brachte es zum stellvertretenden Chefingenieur des sowjetischen Kernkraftwerks in Tschernobyl. Der Aufstieg zum Chefingenieur winkte - die erfolgreiche Durchführung eines riskanten Versuchs könnte bei der Beförderung helfen. Am 26. April 1986 wurde er durchgeführt.

Bremse wirkte wie Gaspedal

Von einem erfolgreichen Test konnte jedoch keine Rede sein. Stattdessen ereignete sich der bislang größte atomare Super-GAU der Geschichte. Bei der Simulation eines vollständigen Stromausfalls kam es zu einem unkontrollierten Leistungsanstieg im Reaktor, der zur Explosion des Blocks vier führte. Die entscheidenden Minuten im Kontrollraum des Reaktors waren dramatisch. Schichtleiter Alexander Akimow lehnte zunächst die Durchführung des Tests, der zu dem Unglück führte, aufgrund einer Übertretung der Sicherheitsbestimmungen ab. Djatlow brachte ihn aber mit der Drohung einer Kündigung zum Schweigen - und erhöhte die Risiken noch durch andere Maßnahmen. Doch es war nicht nur Djatlows Wirken, das den Weg in die Katastrophe bahnte: Die baubedingten Eigenschaften des mit Graphit moderierten Reaktors bargen zusätzlich erhebliche Risiken. Am Ende war es das Betätigen der "Notbremse" mittels Einfahren der Steuerstäbe in den Reaktor, das wie ein Gaspedal wirkte - und den Block vier in die Luft jagte.

Seither tobt ein Glaubenskrieg um die Atom-Katastrophe - etwa um die Zahl der Opfer: Wollte die Weltgesundheitsorganisation WHO in einer Studie vor 10 Jahren im Umfeld des Reaktors "weniger als 50 Opfer" gezählt haben, bei denen nachweislich die Strahlung zum Tod führte, sprach sie später von bis zu 17.000 Toten. Zu wenig, vermuten Atomkraftgegner, die von bis zu 100.000 Todesfällen sprechen. Auch die Frage, wie viel vom Reaktorkern denn nun wirklich in die Luft gesprengt wurde, ist strittig. Spricht man offiziell davon, dass sich noch 96 Prozent des Brennstoffs im Inneren des Reaktors befinden, glauben manche Experten wie der russische Kernphysiker Konstantin Tschetscherow, dass der Großteils des Brennstoffs bei der Explosion verdampft ist und so in die Atmosphäre gelangte.

Sicher ist, dass die Atomkatastrophe auch große politische Auswirkungen hatte - nicht zuletzt in der UdSSR selbst. Der Umgang des intransparenten Sowjet-Systems mit dem Super-GAU war nämlich alles andere als vertrauenerweckend. In Zentralkommitee und Politbüro herrschte Verwirrung vor. Die Strukturen des noch aus der Stalinzeit stammenden sowjetischen Kommandosystems erwiesen sich als nicht krisenfest. Erst drei Tage nach dem Unglück, als bereits Messungen in Schweden einen Atomunfall vermuten ließen, rückte man in Moskau mit der Wahrheit heraus.

Arbeiter und Feuerwehrleute, sogenannte Liquidatoren, wurden ohne entsprechende Schutzkleidung an den Unfallort geschickt. Die Zivilbevölkerung wurde über die volle Gefährdung im Unklaren gelassen. Filme aus der Stadt Pripjat, die nur langsam evakuiert werden konnte, zeigten etwa spielende Kinder und immer wieder weiße Blitze - die atomare Strahlung. 600.000 Liquidatoren halfen, die Folgen der Katastrophe zu mildern. Die WHO geht allein unter ihnen und den Evakuierten von etwa 4000 Todesfällen wegen Strahlenschäden bis 2086 aus. Seit 1990 wurden in Weißrussland - auf dessen Gebiet sich der größte Teil des radioaktiven Fallouts verteilte -, Russland und der Ukraine mehr als 6000 Fälle von Schilddrüsenkrebs gemeldet - eine weit höhere Zahl, als statistisch gesehen zu erwarten wäre.

"Die Geheimhaltungspolitik der sowjetischen Regierung bei der Katastrophe hat den Untergang der Sowjetunion sicherlich beschleunigt", sagte Astrid Sahm von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik der "Wiener Zeitung". Die Tschernobyl- und Weißrussland-Expertin ist auch der Meinung, dass die Katastrophe den Unabhängigkeitsbewegungen in Belarus und der Ukraine Auftrieb gegeben hat, weil der Eindruck entstand, dass sich das Zentrum nicht um die Belange der Republiken kümmere. Tschernobyl bildete auch den wahren Startschuss für Gorbatschows Reformen unter dem Signum von "Glasnost" (Offenheit) und "Perestrojka" (Umgestaltung) - und es erschütterte das technikgläubige Selbstbild des staatlich verordneten Marxismus, der von seinem Versprechen, alle Probleme wissenschaftlich lösen zu können, lebte.