Atom-Experten bestreiten gängige Version des Unglückshergangs. | Im Reaktorkern sollen nur noch "leere Räume" sein.
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Wien. Dass die Betreiber des Reaktors Fukushima in Japan erwägen, das Kraftwerk unter einer Schicht aus Sand und Beton zu begraben, weckt Erinnerungen an die Katastrophe von Tschernobyl. Am 27. April 1986, einen Tag nach dem Unfall, begannen damals Liquidatoren, den brennenden Reaktor zuzuschütten. In rund 1800 Hubschrauberflügen sollen rund 800 Tonnen Dolomit, 2400 Tonnen Blei und 1800 Tonnen Sand und Lehm auf den glühenden Kern des Reaktors, die "aktive Zone", geschüttet worden sein.
Manche Experten bezweifeln das: "Wenn man die Mengen an Material zusammenrechnet, die hineingeschüttet worden sein sollen, müsste man zu einem Block kommen, der weit größer wäre als der gesamte Sarkophag", sagte der Präsident der deutschen Gesellschaft für Strahlenschutz, Sebastian Pflugbeil, in einer ZDF-Dokumentation von 2002 über den "Millionensarg" von Tschernobyl. Pflugbeil, ein ehemaliger DDR-Dissident, war als einer der wenigen Experten im Inneren der Schutzhülle, die den havarierten Reaktorblock vier umgibt - und nahe der aktiven Zone. "Was ich dort gesehen habe, sind große, freie Räume", sagt der Physiker.
Er hat sich eine These des russischen Kernphysikers Konstantin Tschetscherow zu eigen gemacht. Dieser hält die offiziellen Beteuerungen, wonach sich noch rund 96 Prozent des atomaren Brennstoffs im Reaktor befinden, für falsch. Nach sowjetischen Angaben sind nur rund vier Prozent des Brennstoffs in die Atmosphäre gelangt.
Opferzahlen umstritten
Das ist bis heute auch die Ansicht offizieller westlicher Stellen und internationaler Organisationen. Beispielsweise verweist die deutsche Gesellschaft für Reaktorsicherheit auf "wissenschaftlich abgesicherte Modelle" mittels Messungen während des Unglücks und danach. Demnach müsste sich der Großteil des atomaren Brennstoffs noch im Reaktor befinden.
Tschetscherow, der tausende Male im Inneren des Reaktors gewesen sein soll und der seine Expeditionen auch filmisch dokumentiert hat, meint, es ist genau umgekehrt: "Der Brennstoff ist damals rausgeflogen und 20 Meter über dem Reaktorgebäude in einer Explosion von 40.000 Grad Celsius verdampft. Er hat sich dann über Europa verteilt. Hätte sich die Explosion im Reaktor ereignet, dann würden wir darin nicht komplett erhaltene Installationen und sogar Farbreste finden", meint der Moskauer Experte, der im Juni 1986 erstmals nach Tschernobyl kam, um am Reaktor Temperaturmessungen durchzuführen. "Wir haben keine heißen Zonen gefunden, die Temperatur betrug 24 Grad", sagt der Kernphysiker.
Stimmt seine These, wonach quasi der gesamte Reaktorkern in die Luft gegangen wäre, hätte das auch Folgen für den Glaubenskrieg, den sich Atomlobby und AKW-Gegner um die Opferzahlen von Tschernobyl liefern: Vor fünf Jahren, im Vorfeld des 20. Jahrestages der Katastrophe, hatte eine Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO bei Atomkraftgegnern für Empörung gesorgt, wonach es im Umfeld des Reaktors "weniger als 50 Opfer" gegeben habe, bei denen nachweislich die Strahlung zum Tode führte. Später bezifferte die WHO die Zahl der Toten insgesamt auf bis zu 17.000 - zu wenig, vermuten Atomkraftgegner und Experten wie der Strahlenschützer Pflugbeil, die von bis zu 100.000 Toten sprechen.
Teurer Millionensarg
Tschetscherows These hätte auch Auswirkungen auf die Pläne zum Bau eines zweiten Sarkophags um den havarierten Reaktorblock. Die geschätzten Gesamtkosten für das technologische Megaprojekt würden 1,54 Milliarden Euro verschlingen, Ende April soll dafür in Kiew eine Geberkonferenz mit den acht größten Wirtschaftsmächten, der EU und internationalen Organisationen stattfinden. Dabei wurden schon bisher für die Reaktorsicherheit in Tschernobyl Unsummen ausgegeben. "Was bisher geschah, sind Berge von Papier, in der Regel geschrieben von westlichen Fachleuten, die Gehälter dafür sind in deren Taschen verschwunden", sagt Sebastian Pflugbeil, der glaubt, dass auch bei dem neuen "Shelter"-Projekt "zirka 90 Prozent in den Taschen westlicher Gutachter und Berater" landen wird. Er will, dass stattdessen lieber in die medizinische Betreuung der Opfer investiert wird - und in das rasche Abschalten von Kernkraftwerken.