Zum Hauptinhalt springen

Tschetschenen in Österreich - dem Krieg entkommen?

Von Herwig Schinnerl

Gastkommentare
Der Autor ist Kultur- und Sozialanthropologe und Verfasser mehrerer Publikationen zum Konflikt in Tschetschenien.

In ihrer Heimat drohen ihnen Folter oder sogar Tod. | Ihre Flucht nach Europa bringt für die Mehrzahl der Tschetschenen aber auch keine wirkliche Verbesserung.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 16 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Der Mord an einem ehemaligen tschetschenischen Rebellen, der amnestiert und zu Ramsan Kadyrows Bodyguard wurde und sich später gegen diesen wandte, war entweder eine politische Tat, ein Racheakt des tschetschenischen Präsidenten und seiner Schergen für offene Worte über Menschenrechtsverletzungen, oder ein privater Streit. Allerdings spricht allein die Aussage des verhafteten Fluchtautobesitzers, der Ermordete hätte nach dem Verlassen des Kadyrow-Lagers den Tod verdient, eine deutliche Sprache.

Solch tragische Vorfälle vergrößern die Unsicherheit der Österreicher gegenüber den Tschetschenen im Land. Plattitüden und Generalisierungen in Richtung "alle Tschetschenen sind gewaltbereit, kriminell und Waffennarren" haben an Stammtischen und bei gewissen Parteien Hochkonjunktur.

Dabei sollte eigentlich das Gegenteil der Fall sein, nämlich Verständnis für die Situation und Offenheit gegenüber Tschetschenen. Schließlich lenkt das mediale Interesse den Blick in die Kaukasusrepublik, wo sich die momentane Situation restriktiv, mafiös und autoritär darstellt; Menschenrechtsverletzungen sind auch nach dem offiziellen Kriegsende an der Tagesordnung. Die jährlich tausenden Tschetschenen verlassen ihre traditionell hoch verehrte Heimat und Verwandtschaft nicht grundlos, sondern sie hoffen auf ein freies, friedliches Leben ohne täglich lauernde Repressionen und Folter.

Das herrschende Klima der Angst schreckt äußerst viele Tschetschenen davon ab, sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg zu wenden und ihre Fälle betreffend Folter, Misshandlung, Tötung oder Entführung von Verwandten vorzubringen. Sie fürchten um ihr eigenes oder um das Leben ihrer Familie.

Dabei würde die Behandlung der tausenden Fälle in Straßburg den Betroffenen demonstrieren, dass sie nicht ohne Folgen gefoltert wurden oder das Verschwinden ihres Verwandten nicht vollkommen ungeahndet bleibt (wenn sich schon in Russland keiner dafür interessiert). Und mit jedem Fall würde eine Art "Geschichte der Tschetschenienkriege" geschrieben und die untragbare Straflosigkeit im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen in den Kriegen seit 1994 zumindest ein wenig eingeschränkt.

Fast zeitgleich mit dem Mord in Wien wurde in Russland Juri Budanow frühzeitig aus der Haft entlassen. Er hatte im zweiten Tschetschenienkrieg im Jahr 2000 eine 18-jährige Tschetschenin vor ihrer Familie vergewaltigt und ermordet. Budanow wurde als einer von wenigen Angehörigen des russischen Militärs, dem unzählige Menschenrechtsverletzungen angelastet werden, zu zehn Jahren Haft verurteilt. Die mittlerweile ebenfalls ermordete Journalistin Anna Politkowskaja sprach damals von einer "Großtat des vorsitzenden Richters".

Da Budanow jetzt wieder auf freiem Fuß ist, fürchtet die Familie der von ihm Ermordeten, infolge deren Aussagen er verurteilt wurde, Vergeltung. Am 19. Jänner wurde bereits ihr Anwalt in Moskau auf offener Straße ermordet. Die Familie flüchtete nach Norwegen.

Zielländer wie Österreich müssen versuchen, den Tschetschenen die Sicherheit und die Chancen zu bieten, die ihnen in ihrer Heimat verwehrt blieben. In einer europaweit abgestimmten Asylpolitik, mit zumutbarer Verfahrensdauer und gesichertem Zugang zu Sprachkursen, psychischer Betreuung und Arbeitsmarkt. Erst dann kann mit Recht behauptet werden, die Tschetschenen seien bei uns dem schrecklichen Krieg in ihrer Heimat entkommen.

tribuene@wienerzeitung.at