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Unter dem Titel "Tschetschenien als russisches Palästina" erschien am 7. Juli 2003 ein Artikel in der russischen Online-Zeitung www.pravda.ru. Der Anschlag auf einem Moskauer Freiluft-Rockkonzert, bei dem sich am 5. Juli 2003 zwei tschetschenische Selbstmordattentäterinnen in die Luft gesprengt und 18 Menschen mit in den Tod gerissen sowie 59 weitere Personen verletzt haben, veranlasste diese Online-Ausgabe, sich mit der Problematik der Selbstmordanschlages auseinanderzusetzen. Die spätere Entwicklung der Situation in Tschetschenien und in Russland zeigt: Das Phänomen des Selbstmordanschlages hat in den letzten Jahren in Tschetschenien und in Russland ein solches Ausmaß angenommen, dass man es nicht mehr außer Acht lassen kann.
Der Leiter des Zentrums für Terrorbekämpfung bei der Hauptverwaltung für organisierte Kriminalität des russischen Innenministeriums, General Juri Demidov, teilte der Nachrichtenagentur www.MIGnew.com mit, dass die Anzahl von Terroranschlägen in Russland 2003 im Vergleich zum Jahr 2002 um 55,8 Prozent gewachsen ist. Die russischen Sicherheitsorgane vermuten, dass hinter mindestens 386 Terroranschläge in dieser Zeitspanne tschetschenische Separatisten stecken.
Erste Kamikazeaktion 2000
Auch Frauen waren von Anfang an dabei, was für Tschetschenien etwas noch nie Dagewesenes ist. Traditionell haben sich tschetschenische Frauen während der Kampfhandlungen immer zurückgehalten. Den Weg des Suizid-Angriffs ging als Erste die 17-jährige Chava Baraeva am 6. Juni 2000 im tschetschenischen Dorf Alchan-Jurt: Mit einem voll mit Sprengstoff beladenen Geländewagen vom Typus "UAZ" durchbrach sie eine Sperre und zündete den Sprengsatz vor dem Gebäude der Militärkommandantur. Zwei Angehörige der Spezialeinheit OMON der russischen Polizei kamen ums Leben, fünf weitere wurden verletzt. Die Selbstmordanschläge sind seitdem ein Bestandteil des Tschetschenien-Konfliktes. Behörden, Einrichtungen und Truppen in der russischen Kaukasus-Region, aber auch in Zentralrussland, waren in der Vergangenheit wiederholt Ziel blutiger Anschläge.
Für die tschetschenischen Suizid-Attentäterinnen prägten die Medien den Begriff "schwarze Witwen". Innerhalb von knapp 10 Monaten (Oktober 2002 bis Juli 2003) forderten die "schwarzen Witwen" 246 Todesopfer - darunter Militärangehörige und Zivilisten, Männer, Frauen und Kinder. Wenn man die Opfer der Geiselnahme im Moskauer Musical-Theater (129) dazu zählt, ergibt sich eine Besorgnis erregende Zahl von 375 Todesopfern und mehreren hundert Verletzten.
Ausführlich berichtete über die "schwarzen Witwen" eine Studie der russischen Journalistin Julia Juzik, die im November 2003 ein Buch mit dem Titel "Nevesty Allacha" (Allahs Bräute) herausgegeben hat. In diesem in Form einer Reportage verfassten Buch werden Einzelschicksale beschrieben, aber auch Statistiken ausgewertet sowie eine Prognose der Lageentwicklung skizziert. Unter anderem belegt diese Studie, dass viele der tschetschenischen Selbstmordattentäterinnen unfreiwillig "schwarze Witwen" geworden sind.
Offensichtlich gibt es gewisse Drahtzieher, die gezielt nach bestimmten Frauenkategorien in Tschetschenien suchen, um sie dann als "lebende Bomben" einzusetzen. Zu solchen Kategorien gehören Witwen oder geschiedene Frauen im Alter von ca. 30-40 Jahren sowie junge unverheiratete Frauen (14-23 Jahre), die häufig ohne Vater aufgewachsen sind bzw. solche, die keinen "Krovnik" - Bluträcher - in der Familie oder in der Sippe haben.
Unter Drogeneinfluss
Um tschetschenische Frauen zu einem Suizid-Attentat zu bewegen oder nötigenfalls zu zwingen, werden religiöse Indoktrination, aber auch Drogen, Psychopharmaka sowie spezielle tiefenpsychologische Methoden in Verbindung mit entsprechenden Militärtechnologien wie ferngezündete Sprenggürtel und ähnliches eingesetzt; bewusste Rächerinnen sollen unter den "schwarzen Witwen" eher eine Minderheit bilden.
Den russischen Sicherheitsorganen gelang es, einige Suizid-Angriffe zu vereiteln und die Attentäterinnen festzunehmen. Dazu gehörte unter anderen die 16-jährige Zarema Inarkaeva, die am 5. Februar 2002 einen Polizeiposten in Grosny mit 17 Kilo TNT in die Luft sprengen sollte. Die Expertise belegte, dass Inarkaeva unter Drogeneinfluss - und zwar über längere Zeit - gestanden hatte. Die Gewebeanalyse der sterblichen Überreste von den Selbstmordattentäterinnen vom 5. Juli 2003 auf Psychopharmaka fiel ebenfalls positiv aus. Wenige Tage später entdeckte die Polizei auf der Twerskaja-Straße in Moskau eine weitere junge tschetschenische Frau mit Sprengstoff. Die Festgenommene war die 22-jährige Zarema Muschichojeva aus dem tschetschenischen Bergdorf Bamut; ihr Blutbild wies laut Angaben des Labors für forensische Medizin des russischen Inlandgeheimdienstes FSB ebenfalls Spuren von Drogen und Psychopharmaka auf.
Jüngere tschetschenische Frauen werden im Laufe der Vorbereitungen auf ihren Einsatz zudem nach Möglichkeit isoliert, was eine konsequente Trennung der potentiellen Selbstmordattentäterinnen von der gesellschaftlichen Realität bedeutet. Nur so entsteht eine psychologische Atmosphäre, in der die Bereitschaft, sein Leben für ein Befreiungs-, Erlösungs- oder Vernichtungsziel zu opfern, gedeihen kann. Interessant sind in dieser Hinsicht die Aussagen Muschichojevas in einem Interview der russischen überregionalen Zeitung "Izvestia" vom 2. Februar 2004: "Als ich nach Moskau kam, habe ich gesehen, wie die Leute hier leben. Da habe ich verstanden, dass ich mich nie in die Luft sprengen könnte. Ich habe solche Sachen nie gehabt. Keines unserer Mädchen hat solche gehabt. Hätten Sie gesehen, was für Läden es hier gibt, hätte sich niemand in die Luft gesprengt". Für ihren Einsatz wurde die 22-jährige Frau extra schick angezogen: "Als ich vor der Abreise in den Spiegel geschaut habe, hat es mir sehr gut gefallen, wie ich aussehe. Einige Augenblicke war ich regelrecht glücklich". Vieles deutet darauf hin, dass genau dieser Kontakt mit der unerwarteten Realität mit einen Motivationsgrund dafür lieferte, dass die junge Frau es nicht über sich brachte, den Sprengsatz zu zünden. Stattdessen stellte sie sich der Polizei. Gestern, Donnerstag, wurde sie von einem Moskauer Gericht zu 20 Jahren Haft verurteilt.
Emotionalisierung total
Zu "Bearbeitungsmethoden" gehören ausserdem spezielle Musik und Literatur. Als "Sänger des Jihad" ist inzwischen ein aktiver tschetschenischer Guerillakämpfer, Timur Mucuraev, bekannt geworden. Seine Lieder gehören zum Pflichtprogramm für Selbstmordattentäterinnen. Eines davon aus dem Album "Inschalla, die Gärten warten auf uns" widmete Mucuraev der bereits erwähnten Chava Baraeva. Diese Lieder sind nicht nur in "eingeweihten Kreisen" bekannt, sondern sind in ganz Tschetschenien weit verbreitet und können auf der Rebellen-Homepage www.kavkazcenter.com abgespielt und heruntergeladen werden. Julia Juzik hörte diese Lieder in einem Studentenwohnheim in der tschetschenischen Stadt Gudermes.
Auch spezielle Literatur ist dabei im Spiel. Zarema Muschichojeva erzählte in der U-Haft, dass sie während der ganzen Vorbereitungszeit das Buch "Predsmertnyj mig" (Der Augenblick vor dem Tode) von zwei arabischen Autoren, Chalid ibn Abdurrachman asch-Schaji sowie Sultan ibn Fachd ar-Raschid, in russischer Übersetzung gelesen hatte. Das Buch erschien 1999 beim Badr-Verlag in Moskau und ist ganz legal zu kaufen.
Warum sollen es ausgerechnet weibliche "lebende Bomben" sein? In diese Frage könnte der Auszug aus einem geheimen Memorandum des KGB 1985 über die Selbstmordattentäterinnen im Nahen Osten, der am 10. Juli 2003 in der russischen überregionalen Zeitung "Komsomolskaja pravda" veröffentlicht wurde, Licht bringen: "Nach Meinung der Forscher, die die Psychologie des Terrorismus untersuchen, bedeutet eine Frau als Ausführende eines terroristischen Aktes eine grössere Gefahr. Männer verfügen im Durchschnitt über eine höhere psychologische Hemmschwelle und schätzen die aktuelle Lage nüchterner ein. Im Moment der Ausführung des Aktes - besonders wenn das eigene Leben eingesetzt wird - können das nüchterne Kalkül und der gesunde Selbsterhaltungstrieb aber das Verhalten des Mannes so beeinflussen, dass es zur Abweichung vom Plan bis hin zum Verzicht auf den geplanten Akt führen könnte. Nach Angaben der Forscher ändert eine Attentäterin, die sich etwas fest vorgenommen hat, ihren Entschluss unter der Einwirkung von äusseren Faktoren selten".
Dies bedeutet jedoch auch, dass der andauernde Krieg in Tschetschenien eine entsprechende psychologische Atmosphäre in dieser Rebublik hat entstehen lassen, die das Rekrutieren von potentiellen Selbstmordattentäterinnen überhaupt möglich macht und zusehends erleichtert.
Lebenskrise
Eine Studie der Dienststelle für Untersuchungen der öffentlichen Meinung der russischen Nicht-Regierungsorganisation (NGO) "Donfrauen" mit dem Hauptquartier in Rostov, die im Jahre 2001 durchgeführt wurde, stellte eine regelrechte Weltanschauungskrise bei der Mehrheit der tschetschenischen Frauen fest. Im Laufe dieser breit angelegten Befragung mit dem Titel "Frauen im Tschetschenien-Krieg" wurden insgesamt 257 tschetschenische Frauen in der Republik selbst sowie in Flüchtlingslagern in der Nachbarrepublik Inguschetien interviewt. Die Frage "Kann man behaupten, dass Ihre Lebensansichten in den letzten zehn Jahren diametral entgegengesetzt geworden sind?" haben 80 Prozent der befragten tschetschenischen Frauen bejaht. Für die Mehrheit der Befragten ist eine radikale Umdeutung der Lebenswerte charakteristisch, folgern die Soziologen der "Donfrauen". Dies führt zu einer "Vertrauenserosion" in die demokratischen Institutionen: In einer schwierigen Lebenssituation würde über ein Drittel - 33,19 Prozent - der tschetschenischen Frauen Schutz vor allem bei der religiösen Gemeinde suchen, und nur weniger als ein Fünftel - 16,19 Prozent - würden sich an die Dorf-, Bezirks- oder Republikadministration wenden. 60,8 Prozent der Frauen vertrauen den Behörden überhaupt nicht.
Weiteren Angaben der Soziologen zufolge liefert vor allem die erlebte Gewalt, die den tschetschenischen Alltag prägt, die Gründe für die Weltanschauungskrise. Über 86 Prozent der Befragten berichteten von verschiedensten Formen der Gewalt, die sie selbst, ihre Verwandten, Bekannten und Freunde erlebt haben. Unter den besonders verbreiteten Formen der Gewalt nannten die befragten Frauen erniedrigende Behandlung durch russische Militärs und Polizisten (60 Prozent), Marodieren (39 Prozent), Raubüberfälle (32 Prozent), Beleidigungen und Drohungen (ebenfalls 32 Prozent) sowie Gelderpressungen (31 Prozent).
Wie stoppt man diesen Kreislauf der Gewalt? Nach dem verheerenden Bombenanschlag auf einen vollbesetzten Zug der Moskauer U-Bahn am 6. Februar 2004 mit 40 Todesopfern verabschiedete die russische Duma am 18. Februar einstimmig Abänderungen für zwei Paragraphen des StGB, welche eine Strafverschärfung für Terrorismus vorsehen. Was nützt aber eine Strafverschärfung, wenn die AttentäterInnen damit gar nicht rechnen, mit dem Leben davonzukommen?