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Tschuschen aller Länder, vereinigt euch

Von Solmaz Khorsand

Politik

Wer als Migrant diffamiert wird, soll sich als Migrant wehren, sagt der Sozialphilosoph Radostin Kaloianov.


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Wien. Irgendwann werden Migranten begreifen, dass sie alle am unteren Ende der Gesellschaft angesiedelt werden, erklärt der Sozialphilosoph Radostin Kaloianov. Wenn sie das erkannt haben, werden sie etwas ändern, frei nach der Devise "Tschuschen aller Länder, vereinigt euch". Im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" erklärt er seine These.

"Wiener Zeitung":In Ihren ersten Studienjahren haben Sie mit Österreichs sprachlichen Purismus gehadert. Wie hat sich der geäußert?

Radostin Kaloianov: Dieser Purismus ist sehr stark auf einer phonetischen Ebene. Die Aussprache ist das ausschlaggebende Zugehörigkeitsmerkmal und nicht die Korrektheit des Ausdrucks. Selbst wenn ich etwas vollkommen korrekt sage, sogar ausschmücke mit Fachausdrücken, gebe ich der Umgebung zu verstehen, dass ich nicht hier aufgewachsen bin und das nur, weil ich im Akzent oder ohne Dialekt spreche. Es ist diese unsichtbare Grenze zwischen mir und den Muttersprachlern. Und diese Grenze kann sehr unangenehm werden.

Inwiefern?

Das kann dazu führen, dass ich nichts sage. Anstatt zu sprechen und mich so all dem zu unterwerfen, von dem ich vermute, dass es sich in den Köpfen der anderen abspielt, bleibe ich still und passiv. Das hat mich in der Anfangszeit in Wien gequält. Solange bis ich irgendwann gesagt habe: Ich protze damit. Ich bin stolz darauf. Ich liebe meine Fehler. Das ist die affirmative Haltung. Ich identifiziere mich mit den "Defiziten" - die mir andere als solche auslegen - auch, wenn diese Defizite vorher für mich keine Rolle gespielt haben. Diese Defizite machen meine Kampfidentität aus.

Diese Identität ist nicht selbstbestimmt, sondern von außen zugeschrieben. Ist das nicht eine Kapitulation?

Nein. Da ich es affirmativ angehe, ist der Prozess nicht so einseitig. Es ist zwar keine autonome Entscheidung, aber diese Autonomie hat ohnehin keiner. Wir leben ständig in Interaktion mit anderen. Das definiert uns. Es ist eine aufklärerische Fiktion zu denken, dass meine Handlungen nur von mir abhängen.

Doch der Migrant ist anderen Zuschreibungen ausgesetzt als der autochthone Österreicher.

Ich kann das nicht aufwiegen. Natürlich ist es eine persönliche Entscheidung, wie man mit anderen umgeht, und eine Frage von Kräften und Ressourcen, wie man darauf reagiert.

Wie soll der Migrant diese "Kampfidentität" leben?

Hannah Arendt hat es am besten formuliert: Dass man sich als das wehren muss, als das man angegriffen wird. Wenn du als Jude angegriffen wirst, wehre dich als Jude. Wenn du als Migrant diffamiert wirst, tu nicht so, als ob du keiner bist. Das Migrantische ist konnotiert, deshalb lehnen es viele Migranten ab, so bezeichnet zu werden. Ihre Ablehnung macht sie aber nicht weniger zu Migranten. Das Migrantische ist auch eine Kompetenz. Dieser Erfahrungsschatz und das Wissen, das man als Betroffener in seinem Werdegang erworben hat, ist wie eine Blende, die das Licht, in dem wir leben und die Gesellschaft sehen, anders bricht.

Ist diese Kompetenz nicht in Wahrheit ein Schutzreflex gegenüber dem Eigenen, insbesondere in einer xenophoben Gesellschaft? Nach dem Motto: Ich schütze das, was permanent angegriffen wird?

Wenn ich von Kompetenz spreche, bedeutet das nicht, dass auf einer Seite die Kompetenz als Migrant steht und auf der anderen Seite alle anderen Kompetenzen. Es handelt sich nicht um zwei verschiedene Sets an Kompetenzen, die sich gegenseitig ausschließen. Vielmehr ist das Migrantische das gewisse Extra, das auch den Einsatz der anderen Fähigkeiten anders komponiert. Es ermöglicht uns, in vielen Situationen anders zu handeln. Das ist der Unterschied. Benachteiligt zu sein ist per se keine Kompetenz, erst in Verbindung mit anderen Kompetenzen ist sie es.

Sie bezeichnen Migranten als die neue Unterklasse. Was meinen Sie damit?

In der aktuellen Migrationsforschung werden Migranten als Einzelpersonen gesehen. Man geht davon aus, dass Migranten Individuen sind, die wir auf bestimmte Art und Weise "bezeichnen". Ich behaupte, dass Migranten eine gewisse Kollektivität haben. Im alltäglichen Sprachgebrauch werden Migranten im Plural angesprochen und als Kollektiv dem unteren Ende der sozialen Skala zugeordnet. Und da ist nicht der US-Manager oder die deutsche Medizinstudentin gemeint, sondern der türkische Arbeiter oder die serbische Kellnerin. Das sind die Migranten, von denen die Rede ist.

Diese Migranten werden im öffentlichen Diskurs kaum als Individuen wahrgenommen, wenn man von ein paar sporadischen Alibi-Differenzierungen absieht. Sie nun kollektiv als "Unterklasse" zu stigmatisieren, würde doch den aktuellen Diskurs nur perpetuieren?

Diese Unterklasse bildet sich gegenwärtig heraus. Ich sage nicht, dass das heute passiert. Das ist ein Prozess. Es ist nicht die klassische Klasse von der Klassentheorie, die Selbstbewusstsein hat und auf verschiedene Weisen institutionalisiert ist. So weit sind wir noch nicht. Deshalb bezeichne ich diesen Prozess als migrantische "underclass in the making". Es ist die Akkumulation von Benachteiligung, die in kleinen Schritten, Strich für Strich die Konturen einer neuen sozialen Lebensform in den unteren Etagen der Gesellschaft zeichnet. Und selbst dort, wo es die Migranten trotz Benachteiligung geschafft haben, sich vom "social bottom" - also unten - abzuheben, sind sie weiterhin Benachteiligungen ausgesetzt und rangieren auf dieser erreichten Ebene weiterhin "unten." Deshalb ist meine These von Unterklasse eine untypisch verlaufende Klassenbildung und ein anders verstandenes "Unten".

Das heißt, jeder bleibt in seinem Kontext "unten", sowohl die serbische Ärztin als auch der türkische Arbeiter. Ist diese Benachteiligung der Schlüssel zur Solidarität zwischen den unterschiedlichen Gruppen? Denn warum sonst sollte sie sich solidarisieren und sich Teil eines Kollektivs wähnen?

Niemand wird gezwungen, sich solidarisch zu zeigen. Wer sich im Spiegel einer Theorie der migrantischen "underclass in the making" wiedererkennt, wird auch die eigenen solidarischen Vernetzungen und Verpflichtungen anderes sehen und anders gestalten wollen. Solidarität ist eine Sache der Überzeugung. Wer sich nicht angesprochen fühlt, wird nichts tun. Ich denke nicht in Garantien. Wenn man diesen Diskurs in Garantien denkt, nimmt man die falsche Spur.

Niemand will sich freiwillig als Unterklasse definieren.

Es ist die Frage, wie sich die Leute darauf besinnen. Es muss nicht negativ sein. Erst, wenn sie sich als Unterklasse verstehen, werden sie aufstehen und sagen: Moment einmal! Wir verstehen nicht, warum wir immer da unten in der gesellschaftlichen Hierarchie stehen, und das über Generationen hinweg. Wir arbeiten hart und wir wollen die gleichen Möglichkeiten haben wie die anderen, und wir verdienen sie. Und wir wollen, dass es uns ermöglicht wird, hier und jetzt.

Sie meinen politische Partizipation im Sinne einer Migrantenpartei?

Ja, in der repräsentativen Demokratie kann man nur als politisches Kollektiv wirklich partizipieren.

Diese Idee gab es schon einmal. Bei der Wien-Wahl 2015 ist die Liste "Gemeinsam für Wien" des Arztes Turgay Taskiran angetreten. Der gebürtige Türke war früher Präsident der AKP-nahen UETD. Knapp ein Prozent der Wiener haben seine Partei gewählt. Nicht unbedingt viele. Dient sie als Vorbild für Ihr Gedankenexperiment?

Das war keine Migrantenpartei im eigentlichen Sinne. Das war eine Partei, die sich ethnisch selbst eingeengt hat und das kann nicht funktionieren. Diese Partei wurde auch sehr stark exotisiert, vor allem von den Medien. Für mich hat dieser Versuch dennoch etwas erreicht: Mit dieser Partei sind psychologische Dämme gebrochen. Es hat gezeigt, dass es diese Option der politischen Partizipation und der Selbstvertretung gibt. Ob und wie Migranten von der Möglichkeit, sich selbst zu organisieren und zu vertreten Gebrauch machen, ist eine offene Zukunftsfrage und eine Zukunftsaufgabe.

Migrant, prekär und dann auch noch politisch organisiert? Das ist der Stoff, aus dem Rechtspopulisten seit Jahrzehnten Drohkulissen herbeiimaginieren. Befürchten Sie nicht, mit Ihrem Vorschlag die Angst von der "fünften Kolonne" weiter zu befeuern?

Die Frage ist, wofür das Kollektiv der Migranten steht. Wenn man es so formuliert, bekommt man Separatismus. Aber was wäre, wenn sich diese Leute als die größten österreichischen Patrioten herausstellen, weil sie Erfolg mit und in Österreich haben wollen? Was passiert dann? Und warum soll das nicht der Fall sein? Denn wer nimmt all die Lasten der Migration auf sich? Das tun Menschen, die nach Erfolg streben. Sie wollen nicht scheitern. Wenn sie sich als Kollektiv besinnen und auftreten können, werden sie das tun, um hier Erfolg zu haben, in diesem Land und vor allem mit diesem Land, das ja mittlerweile auch ihr Land ist. Für mich ist das kein Widerspruch.

Radostin Kaloianov

kam nach Stationen in Sofia und Amsterdam vor 15 Jahren für sein Doktoratstudium der Politikwissenschaft nach Wien. Seither forscht der gebürtige Bulgare zu Themen wie Migration, soziale Gerechtigkeit und Affirmative Action für Migranten. In seinem jüngsten Buch "Kritik und Migration" beschäftigt er sich mit der neuen Unterklasse der Migranten.