"Scharia führt zu Spannungen." | "Bürgerkrieg wird es in Nigeria nicht mehr geben." | "Wiener Zeitung": Nigeria ist ein gespaltenes Land. Glauben Sie, dass es zu einer Teilung kommen kann? | Obiora Ike: Es gibt keine Teilung. Moslems leben im Norden und im Süden; Christen wohnen im Süden, Osten und Westen. Wie wollen Sie das teilen? Zu einem Bürgerkrieg wird es nicht mehr kommen. Diese Phase haben wir hinter uns. Es kann sein, dass es in dem einen oder anderen Bundesstaat kracht, aber nicht mehr im ganzen Land.
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Wo gibt es Spannungen?
Zwölf Bundesländer haben die Scharia eingeführt. Das hat zu Spannungen geführt. Denn Christen, die in diesen Bundesländern leben, fallen auch unter diese moslemische Gerichtsbarkeit. Das ist ungerecht. Viele Christen haben ja keine Ahnung von der Scharia, keine Möglichkeit, sich zu informieren. Es gibt Urteile, nach denen Menschen Hände oder Füße abgehackt werden. Dabei ist die Einführung der Scharia nicht einmal verfassungskonform und müsste aufgehoben werden. Doch eine Klage vor dem Höchstgericht birgt auch Probleme. Viele Richter sind Muslime und ihrer Religion gegenüber verpflichtet, was dazu führen kann, dass sie die Einführung der Scharia als rechtens erachten würden.
Das muss aber nicht zwangsläufig so sein?
Muslimische Politiker sind ihrem Glauben verpflichtet. Im Islam gibt es keine Trennung von Kirche, Gesellschaft, Staat oder Politik. Es ist eine Einheit.
Wie gehen Sie dann vor?
Als die zwölf Bundesländer die Scharia eingeführt haben, hat der damalige Präsident (ein Christ, Anm.) erklärt, dass das Thema für ihn keine Priorität hat. Ihm gehe es darum, Armut zu bekämpfen, Schulen zu bauen oder die Wirtschaft auf Vordermann zu bringen. Das hat die verantwortlichen Moslems in den 12 Bundesländern verblüfft. Die hatten sich eigentlich erwartet, dass der Präsident sie angreifen wird und somit eine ersehnte Konfrontation entsteht. Er hat es nicht ignoriert, aber andere Sachen in den Vordergrund gestellt, sodass das Thema von der Oberfläche verschwunden ist. So etwas nennt man afrikanische Weisheit.
Hat sich das Zusammenleben zwischen Muslimen und Christen in den letzten Jahren verbessert?
Wir haben Dialoge geführt, aber die Probleme sind immer noch da. Es könnte aber schlimmer sein. Im Jahr 2009 gab es den Fall der Gruppe Boko Haram, übersetzt heißt die so viel wie: "Westliche Ausbildung ist Sünde". Die haben Kirchen verbrannt und Menschen getötet. Auf christlicher Seite gab es natürlich Rachegelüste und manch einer wollte auch im Süden Moslems umbringen. Das haben wir aber verhindert.
Was halten Sie von Mallam Sanusi, dem muslimischen Gouverneur der nigerianischen Nationalbank?
Ihn habe ich vor drei Wochen getroffen. Er führt islamische Banken in Nigeria ein. Das ist bereits per Gesetz gebilligt worden. In dem Zusammenhang muss man auch seine Religion bei der Bank angeben, wenn man einen Kredit will.
Aber islamische Banken sind doch eigentlich dazu da, um Bankgeschäfte in Übereinstimmung mit der moslemischen Religion durchzuführen. Laut Scharia besteht ja beispielsweise ein Zins- oder Spekulationsverbot. Ist das nicht eher ein technischen als ein religiöses Problem?
Wenn der Islam gegen Zinsen ist, dann ist das eine Glaubenssache und nicht eine nationale Angelegenheit. Wenn ich solche Banken will, dann muss ich allein bleiben, muss ich in einem Staat leben, in dem es nur Moslems gibt. In Österreich gibt es ja auch Banken für alle. Wenn ich ein Land habe, in dem es katholische Banken hier und moslemische Banken dort gibt, was habe ich dann für ein Land?
Klingt, als wären Sie ein Anhänger des Laizismus.
Man darf seine eigenen religiösen Werte mitbringen, aber nicht über die Verfassung des Landes stellen. Die Verfassung Nigerias besagt: Der Staat darf keine Religion als Staatsreligion nehmen. Es gibt Religionsfreiheit, es gibt Bürgerrechte.
Kennen Sie islamische Politiker in hohen Positionen, die das auch so sehen?
Es ist schwierig, so einen Moslem zu finden. Ich habe bereits erklärt, dass es da im Islam keine Trennung gibt. Nehmen wir den Militärpräsidenten Babangida: Er hat Nigeria zum Mitglied der OIS, der Organisation Islamischer Staaten, gemacht. Babangida musste deshalb zurücktreten, aber Nigeria ist immer noch ein Mitglied der OIS. Denn die Moslems wollten die Mitgliedschaft nicht zurücknehmen und als wir dann einen christlichen Präsidenten hatten, der für einen OIS-Austritt war, wurde ihm vorgeworfen, er sei moslemfeindlich. Und so ist Nigeria bis heute Mitglied der OIS.
Wie steht es um die Öleinnahmen Nigerias, die versickern ja immer wieder?
Das Geld sitzt in Europa und wird nicht von Nigerianern gemacht, sondern von Shell, Total, Elf oder Agip. Sie sind diejenigen, die die Ölfelder bewirtschaften und Öl verkaufen. Die Gelder des Öls sind eine Angelegenheit von Multis, was weniger die Nigerianer als die Öffentlichkeit in Europa, den USA und mittlerweile auch in China und Indien betrifft. Man muss sehen, dass die kolonialisierten Gesellschaften immer noch wirtschaftlich kolonialisiert sind. Großbritannien zum Beispiel erhält einen großen Teil unseres Budgets für Waffenlieferungen. Nicht die Ölgelder kommen zu uns zurück, sondern Waren, die mit Ölgeldern gekauft sind. Und einige Waren sind Bomben, und die brauchen wir nicht.
Welchem Afrikabild begegnen Sie in Europa?
Ich wünschte mir, dass mehr über afrikanische Menschen und ihre Weltanschauungen bekannt ist. Zum Beispiel haben wir einen Optimismus, den wir an Europa weitergeben wollen. Ich habe in Europa eine Menge Müdigkeit und Labilität gesehen. In meiner Sprache existiert das Wort Selbstmord zum Beispiel nicht.
Führen Sie den Optimismus auf die Religiosität zurück?
Laut einer von der BBC publizierten Untersuchung leben in Nigeria die religiösesten und auch die fröhlichsten Menschen. Die größte abendländische Problematik ist die Verabschiedung von Gott. Ihr sagt: "Tschüss Gott!" Deshalb ist Selbstmord möglich, das autonome Individuum relativiert alles. Es ist, als ob man alleine auf der Welt existieren würde.
Wo sehen Sie sonst noch Unterschiede zu Europa?
Wir sind eine zyklische, Europa ist eine lineare Kultur. Heute ist heute, und morgen ist morgen: Das ist Europa. In meiner Sprache gibt es kein Wort für morgen. Übersetzt heißt es: Das Gestern, das sich widerspiegelt. Liest man griechische Tragödien, bekämpfen sich die Götter ständig. Diese dualistische Philosophie ist das, was abendländische Menschen auch in der Religion oder in der Wirtschaft leben. Oder auch im Eheleben: Wenn ein europäischer Mann fremdgeht, dann ist die Beziehung vorbei. Wenn ein Mann oder eine Frau in Nigeria fremdgehen, bleiben sie zusammen, sobald Kinder da sind. Die Einstellung lautet: Wenn ich mich von diesem Menschen trenne, wie geht es mit den Kindern, der Großfamilie, unserem wirtschaftlichen Haushalt weiter? Also vergeben wir einander.
Priester, Politiker und Bankier
Obiora Ike ist Generalvikar des nigerianischen Bundeslands Enugu.
(aum) Auf einmal legt Obiora Ike los: "Tirol isch leis oans, isch a Landl a kloans.. ." Es kommt nicht alle Tage vor, dass ein Generalvikar aus Nigeria in einem Wiener Café ein Tiroler Heimatlied trällert. Doch Ike ist ein besonderer Fall. Denn in Innsbruck nahm für ihn das Priesterleben seinen Anfang. Dort studierte er ab 1978 und machte seine Abschlüsse in Politikwissenschaft, Philosophie und Theologie. Dort wurde er zum Diakon geweiht und empfing schließlich 1981 in Hohenems seine Priesterweihe.
Vor seinem Studium in Österreich hatte er in seiner Heimat Nigeria bereits im Alter von 22 Jahren den Bachelor of Arts in Philosophie erlangt. Fast 33 Jahre nach seinem Studium in Österreich ist er auf Einladung von "Kirche in Not" zurückgekehrt. Die Hilfsorganisation für verfolgte und bedrohte Christen engagiert sich seit Jahren in Nigeria und hat seit 2007 fast drei Millionen Euro für lokale Projekte zur Verfügung gestellt.
Was es heißt, verfolgt und bedroht zu werden, weiß Obiora Ike nur zu gut. Mit Morddrohungen und Attentaten war er schon oft konfrontiert. "Ich will mich da gar nicht im Detail daran erinnern. Das wäre zu viel für mich." Doch das Bild eines Attentäters, der vor ihm steht, hat sich in seine Erinnerung eingebrannt, wie er der "Wiener Zeitung" erzählte.
In seiner Heimat setzt sich Obiora Ike seit Jahren für Menschenrechte und religiösen Dialog ein. Er ist Generalvikar und Caritas-Direktor der Diözese Enugu, Vorsitzender der Muslimischen-Christlichen Dialog-Kommission des Bundeslandes Enugu, bischöflicher Berater und Präsident des Club of Rome, Sektion Nigeria.
Im Laufe seines Lebens gründete er zwanzig Nichtregierungsorganisationen, die erste war 1986 in Nigeria das Katholische Institut für Entwicklung, Gerechtigkeit und Frieden. Als dessen Direktor unterstützt er unter anderem Menschen, die sich von der Justiz schlecht behandelt fühlen mit juristischem Rat oder politischen Druck
Er wurde Mitglied der Afrikastudiengesellschaft in Los Angeles, USA, und der Internationalen Politischen Wissenschaftsgesellschaft in Ottawa, Kanada.
Obiora Ike ist aber auch Bankier. Er ist Direktor der "Umuchinemere Procredit", einer Bank, die Mikrokredite vergibt. So ermöglicht er es armen Kleingewerbetreibenden, eine Existenz aufzubauen, die in der Regel keinen Zugang zu üblichen Bankkrediten haben, da sie keine Sicherheiten stellen können.
Ob dem 55-Jährigen nach so vielen Projekten die Zeit in Innsbruck fehlt? "Nein, eigentlich nicht. Das gute Wasser geht mir vielleicht etwas ab", sagte Ike. Doch an die Zeit, als er den Inn entlang zur Leopolds-Franzens-Universität spazierte, erinnert er sich heute noch gern.