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Tüchtig und süchtig

Von Monika Spiegel

Reflexionen
Gefangen im Netz der Verpflichtungen.
© C. J. Burton/ Corbis

Der "Workaholic" wird viel mehr akzeptiert als andere Suchtkranke. Deswegen ist es schwierig, den schleichenden Übergang vom positiven Arbeitseifer zur problematischen Arbeitssucht zu bemerken.


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Zwischen 70 und 80 Stunden pro Woche verbringt Thomas C. (Name von der Autorin geändert) mit seiner Arbeit. Die Arbeit gibt ihm alles. Denn alles andere gibt es nicht mehr. "Ich denke nicht, dass die Arbeit an sich mehr Spaß macht als alles andere", erzählt Thomas C., "da aber alles andere zeitlich immer zu kurz kommt, ist es schwierig etwas anderes als die Arbeit so intensiv ausüben zu können, dass es Spaß machen würde."

Wettbewerbsdruck, der Zwang zu permanenter persönlicher Optimierung - in den letzten Jahren ist die Einstellung vorherrschend geworden, sich selbst als aktiven Gestalter seines Lebensweges zu sehen, als "Self-Entrepreneur", nicht mehr als Befehlsausführer.

Seriöse Zahlen dazu gibt es leider nur aus Deutschland. Nach einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) aus dem Jahre 2007 arbeiteten in Deutschland nur noch 13 Prozent der Beschäftigten zwischen 35 und 42 Stunden von Montag bis Freitag. Mehr als 40 Prozent arbeiten am Samstag, jeder Fünfte bereits am Sonntag. Besonders betroffen von der Mehrarbeit sind Selbstständige und Freiberufler, weil es keine fixen Arbeitszeiten gibt. Natürlich sind Jobs im Management auch betroffen, weil es dort die "nine to five"-Jobs kaum mehr gibt. Hier ist wohl die Suche nach Anerkennung und Bestätigung eine automatische Arbeitszeitverlängerung. Die Zahl der Arbeitenden mit traditionellen Bürozeiten von 9:00 bis 17:00 Uhr hat sich zwischen 1989 und 2003 halbiert.

Laut Kollektivvertrag ist die Bruttoarbeitszeit zwar vertraglich geregelt, dennoch finden Unternehmen Wege, dieses Übereinkommen legal zu umgehen. Überstunden sind im Dienstvertrag inkludiert und werden mit bekannten Überstundenpauschalen abgegolten. Dazu kommt auch die erhöhte Bereitschaft der Angestellten selbst, freiwillig mehr zu arbeiten. Die Akzeptanz gegenüber Mehrarbeit betrifft Führungskräfte in besonderem Maße: Die wenigen, die "noch besser sein wollen als alle anderen", müssen eben noch mehr arbeiten, um ihren Lebensplan zu realisieren.

"Bis zum Umfallen"

Thomas erzählt, dass ihn unerledigte Arbeiten gedanklich auch am Wochenende "verfolgen": "Das Gefühl, noch dringend etwas fertigstellen zu müssen, ist zum Teil sehr belastend und lässt kein Abschalten zu. Ich arbeite oft bis zum Umfallen, wobei ich das nicht körperlich meine, sondern psychisch, ich verspüre innere Leere, Emotionslosigkeit bis hin zu depressiven Verstimmungen."

Eine Arbeitswoche von 60 Stunden und mehr führt unweigerlich dazu, dass die Bereiche Arbeit und Privatleben sich stark überschneiden. Die permanente gedankliche Beschäftigung mit beruflichen Fragen ist ein Faktor der Arbeitssucht.

Zwar beteuern viele Führungskräfte, dass sie ihre Freizeit am liebsten mit der Familie verbringen würden, die Realität sieht aber anders aus. Tatsächlich sind sie sich des Problems bewusst, dass sie soziale Verpflichtungen vernachlässigen. Trotzdem ordnen sie den privaten Umgang ganz klar der Arbeit unter.

"Ein Sonntag ganz ohne Arbeit, auch ohne den Gedanken daran, endet tendenziell mit Unbehagen. Ein freier Tag ist keine Erleichterung. Ich nehme sogar Arbeit in den Urlaub mit. Das ist mit den neuen Kommunikationsmitteln gar nicht mehr vermeidbar", erzählt Thomas C.

Damit sind zwei weitere Diagnosekriterien erfüllt, die für eine Arbeitssucht sprechen: die Vernachlässigung sozialer Pflichten und die kontinuierliche Weiterführung des Verhaltens, trotz schädlicher Auswirkungen auf die eigene soziale Umwelt.

Zwanghaftes Verhalten

Von einer Arbeitssucht kann dann gesprochen werden, wenn im Zentrum der Gedanken der Beruf steht, ein innerlicher Zwang zum Arbeiten verspürt wird, wenn die persönliche Freizeit langfristig der Beschäftigung geopfert wird, soziale Verpflichtungen und Partnerschaft vernachlässigt werden und die Kontrolle über das eigene Handeln verloren geht.

Zwanghaftes Verhalten steht am Anfang der Arbeitssucht und wird mit der Zeit immer weniger kontrollierbar. Schließlich kommt die Unfähigkeit zur Abstinenz hinzu. Je mehr man arbeitet, umso höher werden die Chancen auf einen Top-Job, so die Grundannahme. "Perfektion ist leider sicherlich ein Thema. Auch Angst davor, Fehler zu machen. Dennoch trägt meine Arbeit nicht dazu bei, mein Lebensziel zu erreichen. Meine Arbeitssucht ist eher wie ein Spiel, aus dem auszusteigen eine große Hürde darzustellen scheint", sagt Thomas C. selbstkritisch.

Symptomatisch für die Arbeitssucht ist, dass der Beruf oft ein Mittel darstellt, mit dem sich die Betroffenen von anderen Problemen abzulenken versuchen. Die Parallele zur substanzgebundenen Sucht ist offensichtlich: Was dem Fixer sein Heroin, ist dem Workaholic die Arbeit. Noch ist derartiges Verhalten aber akzeptiert, bei Mitarbeitern, Wählern und Vorgesetzten sogar oft gerne gesehen. Viel Arbeitseinsatz bedeutet Engagement und ist löblich. Anders als bei den substanzgebundenen Süchten wird hier der Abhängige durch Anerkennung von Bekannten, Kollegen und Vorgesetzten noch weiter in seinem Verhalten bestärkt.

"An den Moment, wo aus meiner Lust zur Arbeit eine krankmachende Sucht geworden ist, kann ich mich nicht erinnern. Aber bildlich gesprochen, dürfte es wohl mit der Wahrnehmung der Möglichkeit zusammenfallen, durch Arbeit Bedürfnisse - wie etwa Anerkennung - zu befriedigen. Irgendwann stellt sich aber zum Erfolg auch die Verantwortung ein und dann wird auch von außen der Druck wahrnehmbar größer, was wohl die gefühlsmäßigen Komponenten der Arbeitssucht - dazu gehören Perfektionszwang, Angst vor Fehlern, Suche nach Anerkennung - noch weiter in den Vordergrund rücken und diese noch einflussreicher machen dürfte."

Gestörte Sozialkontakte

Die Offenheit, mit der Thomas C. über sein Suchtverhalten spricht, ist selten anzutreffen. Das Zugeben eigener Mängel fällt Arbeitskranken besonders schwer. Jedes Gefühl, das Hinweise auf eine verminderte Leistungsfähigkeit liefert, wird unterdrückt: Müdigkeit, Frust und fehlende Motivation.

Arbeitskranken ist gemein, dass ihre Kontakte zum sozialen Umfeld gestört sind. Der langwierige Aufbau von zwischenmenschlichen Beziehungen erscheint ihnen zu mühsam - lieber investieren sie ihr Herzblut in die Arbeit. Dies ist weniger kompliziert und bringt den Arbeitssüchtigen mehr Befriedigung. Investiert wird nur in Beziehungen, die "nützlich" sind.

Der Trend zum "Networking" scheint unverzichtbar, bestärkt die Betroffenen darin, am Ball zu bleiben und immer und überall erreichbar zu sein. Hier wird das Hobby zum Beruf und viele Karrierepaare lernen sich auch durch den Beruf kennen. Das heißt, Liebe und Beruf verschmelzen, sind häufig ein vermeintlicher Weg zum Erfolg.

Im Gegensatz zu den Alkohol- und Ess-Süchtigen erscheinen Arbeitssüchtige allerdings auf den ersten Blick als sehr aktiv und tüchtig. Sie kommen nicht zur Ruhe, die Gedanken kreisen ständig um den Beruf und in der Freizeit lesen sie zur Entspannung beruflich verwertbare Fachliteratur. So manches, was Arbeitssüchtige als entspannend bezeichnen, ist nur eine andere Ausprägung von Leistung und Arbeit. Manager, die sich morgens um fünf Uhr zu einer Stunde Ausdauerlauf als Vorbereitung auf den nächsten Marathon überreden können, tun dies oft nicht aufgrund der positiven gesundheitlichen Auswirkungen, sondern lediglich, um erfrischt und energiegeladen mehr arbeiten zu können. Selbst im Sport also, der unter dem Deckmantel des Ausgleichs und der Entspannung steht, zählen die positiven Nebeneffekte für den Beruf.

An dieser Stelle ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass die Arbeitssucht eine stoffungebundene Suchtform ist. Der Körper produziert seine Substanzen selbst: Endorphine oder Weckamine. Endorphine sind körpereigene Morphium-ähnliche Moleküle, die nicht nur schmerzdämpfend wirken, sondern auch für ein wohlig-glückliches Gefühl sorgen. Bei Weckaminen handelt es sich um körpereigene Aufputschmittel, wie zum Beispiel das Hormon Adrenalin, welches eine leistungssteigernde Wirkung hat.

Genau dies führt aber oft in eine stoffgebundene Suchtthematik: Denn wer kann nach einem 14-stündigen Arbeitstag einfach abschalten und seelenruhig einschlafen? Der Vergleich mit einer rasanten Fahrt auf der Autobahn drängt sich hier auf. Stellen Sie sich vor, Sie sind mit Tempo 180 stundenlang unterwegs und plötzlich kommt ein Tempolimit auf 60 km/h. Was empfinden Sie in diesem Moment? Bei den meisten sind das wohl Ungeduld, Nervosität, und der Drang, sofort wieder auf das Gaspedal zu steigen. Genau diese Gefühle und Zustände lassen Menschen, die immer im Glauben sind, funktionieren zu müssen, nicht schlafen. Und an diesem Punkt laufen sie Gefahr, in eine substanzgebundene Sucht zu schlittern. Alkohol, Medikamente und Drogen sind willkommene und (scheinbar) beruhigende oder auch aufputschende Substanzen. Es beginnt ein Teufelskreis, der sich in viele Richtungen auswirkt: Die Beziehung mit dem Partner, das Familienleben, die Qualität der Arbeit und letztendlich die physische und psychische Gesundheit werden aufs Spiel gesetzt. Die Bühne für das Problem der Selbstmedikation mit verschiedensten Substanzen und Verhaltensweisen wird eröffnet.

Für die Zukunft lässt sich deutlich sagen, dass immer mehr Menschen in Unternehmen psychologische Beratung und auch psychotherapeutische Behandlung benötigen.

Neue Forschungen

Deshalb haben wir an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien mit dem neu gegründeten Institut "Psyche und Wirtschaft" begonnen, die Fachrichtungen Psychologie und Psychotherapie mit dem Know-how aus Organisationstheorie und Kommunikationswissenschaften zusammenzuführen. Im Fokus dieser integrierten Betrachtung stehen die Analyse der Fragestellungen und Anforderungen in Unternehmen aus psychotherapeutischer Sicht, die Unterstützung (für Führungs- und Selbststeuerungsfragen) bis hin zur Rückkoppelung auf individueller Ebene für Coaching und psychotherapeutische Behandlung. Dabei werden spezifische strukturelle Gegebenheiten einzelner Unternehmensformen und deren Auswirkung auf Mitarbeiter ebenso untersucht, wie Fragen zu Suchtverhalten, Burnout bzw. Motivation und Stress bei Change-Projekten direkt aufgearbeitet.

Im Herbst starten wir dazu einen Universitätslehrgang mit namhaften Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Wissenschaft, die sich mit "Psychischer Gesundheit am Arbeitsplatz" beschäftigen. Im Lehrgang sowie in den Seminaren am Institut "Psyche und Wirtschaft" geht es darum, den Spagat zwischen Wissenschaft und Praxis zu schaffen.

Monika Spiegel leitet an der Wiener Sigmund Freud Privatuniversität das Institut Psyche und Wirtschaft. Selbst aus der Wirtschaft kommend, arbeitet sie als Psychotherapeutin und Coach in freier Praxis in Wien.