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Was bisher Zufall war, kann gezielt aufgespürt werden. | Molekularbiologen entwickelten dafür Computerprogramm. | Heidelberg. Ursprünglich auf der Suche nach einem Antibiotikum, entwickelten deutsche Forscher im Jahr 1953 den Wirkstoff Thalidomid, der in der Folge vor allem Schwangeren als Beruhigungsmittel empfohlen wurde - mit den bekannten verheerenden Folgen, die als "Contergan-Skandal" in die Geschichte eingingen. Eine medikamentöse Missgeburt? - Nein. Denn 1964 entdeckte der israelische Hautarzt Jacob Sheksin die Tugenden der Substanz.
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Thalidomid hemmt Entzündungen sowie Tumore und bremst unerwünschte Gefäßneubildungen ein. Damit wurde es zur stärksten Waffe im Kampf gegen Lepra, wird aber mittlerweile auch erfolgreich gegen eine Reihe von anders nicht behandelbaren Haut- und Autoimmunerkrankungen eingesetzt und wurde kürzlich zur Behandlung des Multiplen Myeloms zugelassen.
Explizit einer Nebenwirkung verdankt gar die vor mehr als zehn Jahren entwickelte Substanz Sildenafil ihren Aufstieg zu einem der meistgefragtesten Medikamente der Welt. Nicht als Blutdrucksenker oder zur Behandlung von Herzerkrankungen wie Angina pectoris, als das es von Pfizer-Forschern entwickelt und getestet wurde, sondern als erstes wirksames Mittel gegen männliche Erektionsstörungen unter dem Namen "Viagra".
Zwar wird der Arzneistoff auch zur Therapie der idiopathischen pulmonal-arteriellen Hypertonie (einer Form des Lungenhochdrucks) und der Höhenkrankheit eingesetzt, Basis ihres ungeheuren Erfolges war aber eine Gruppe von männlichen Studienteilnehmern, die sich gegen eine Absetzung des Mittels wehrten, obwohl es sich als untauglich erwiesen hatte.
Molekulare Ziele
In der Arzneimittelforschung und -entwicklung sind dies nur zwei besonders markante Beispiele unter vielen für Überraschungen, Fehlschläge, unerwartete Erfolge und Zufälle. Forscher des European Molecular Biology Laboratory (EMBL) in Heidelberg haben nun eine neue Methode entwickelt, um einen Nutzen aus den unerwünschten Nebeneffekten vorhandener Medikamente zu gewinnen. Sie entwickelten ein Computerprogramm zum Vergleich, wie ähnlich die Nebenwirkungen der unterschiedlichen Mittel einander sind und können damit vorhersagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie dennoch die selben molekularen Ziele anpeilen.
"Solche Korrelationen entschlüsseln nicht nur die molekulare Basis zahlreicher Nebeneffekte, sondern bergen auch ein bedeutendes therapeutisches Potenzial in sich - damit eröffnen sich neue Anwendungsgebiete für Medikamente, die ursprünglich nicht spezifisch für diese entwickelt wurden", sagt Peer Bork, Koordinator des EMBL-Structural and Computional Biology Unit.
Die Forscher untersuchten mit ihrer neuen Methode 746 bekannte Arzneimittel und fanden unter ihnen 261 verschiedene, die neben ihren bekannten Eigenschaften auch dazu geeignet sind, an bisher unentdeckte molekulare Ziele anzubinden. Von 20 der darauf experimentell getesteten Medikamente zeigten 13 eine Bindung an jene Biomoleküle, die offensichtlich eine entscheidende Rolle für die Ähnlichkeit der unerwünschten Nebeneffekte spielen. In weiteren Zelltests an neun von ihnen zeigten alle eine entsprechende Aktivität, also den erwarteten Effekt während ihrer Interaktion mit den neu entdeckten Proteinen.
Schub für Entwicklung
Die Forscher sehen darin eine bedeutende Chance für neue Therapien mit "alten" Medikamenten und nennen dafür ein erstes Beispiel: Das als solches nicht sehr erfolgreiche Antidementivum "Donepezil" teilt eine seiner biologischen Anlaufstellen mit dem Antidepressivum "Venlafaxin", das allerdings wegen diverser Nebenwirkungen umstritten ist. Die EMBL-Experten ziehen daraus den Schluss, dass sich "Donepezil" auch zur Behandlung von Depressionen einsetzen ließe.
Bork: "Mit weiteren Tests und einer Verfeinerung unserer Methode könnten wir künftig ein breiteres Spektrum abdecken. Neue Medikamente könnten routinemäßig vom Computer auf potenzielle Anwendungen in verschiedenen therapeutischen Bereichen gecheckt werden. Das würde nicht nur eine Menge Geld sparen, sondern auch einen gehörigen Fortschrittsschub in die Arzneimittelentwicklung bringen."