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Gespaltene Opposition spricht von Landesverrat. | Gerüchte über Zusatzverträge mit Russland. | Kiew/Wien. Die Abgeordneten der Werchowna Rada sind an sich für verhaltensoriginelle Auftritte bekannt. Was sich am Dienstag im Parlament in Kiew abspielte, war aber selbst für ukrainische Verhältnisse ungewöhnlich: Parlamentarier würgten einander und rissen sich an den Haaren, Abgeordnete der Opposition warfen mit Eiern und Rauchbomben. Parlamentspräsident Wladimir Litwin musste von seinen Mitarbeitern mit Regenschirmen vor den anfliegenden Geschossen geschützt werden, und auch die recht noble Holztäfelung der Rada hat einiges abbekommen.
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Anlass für den Wirbel bot die Ratifizierung des Flottenabkommens mit Russland, in dem die Opposition Verrat an den nationalen Interessen der Ukraine wittert. Das vor kurzem von den Präsidenten Russlands und der Ukraine, Dmitri Medwedew und Wiktor Janukowitsch, in Charkow paktierte Abkommen sieht vor, dass die finanziell mehr als klamme Ukraine von Russland beim Kauf von Erdgas einen Rabatt von umgerechnet 30 Milliarden Euro erhält. Im Gegenzug soll die russische Schwarzmeerflotte, die in Sewastopol auf der Krim vor Anker liegt und deren Pachtvertrag eigentlich 2017 ausgelaufen wäre, weitere 25 Jahre, also bis 2042, in der Ukraine stationiert bleiben dürfen. 236 der Abgeordneten, zehn mehr als nötig, sprachen sich für das Abkommen aus.
Die Opposition schäumt: Ex-Präsident Wiktor Juschtschenko sprach von einer "militärischen Usurpierung des Landes", seine Konkurrentin Julia Timoschenko, die am Dienstag zu Demonstranten vor der Rada sprach, fürchtet, der Vertrag könne die Ukraine "in die Sowjetunion zurück katapultieren". Sie kündigte an, durch das Land reisen und die Menschen gegen die "Verräter" mobilisieren zu wollen.
Opposition zerstritten
Wirkliche Einigkeit wollte bei der nunmehrigen Opposition aber auch in dieser Stunde nicht aufkommen: "Ich habe mich schon zweimal mit Timoschenko zusammengeschlossen, das Ergebnis war aber immer das Gleiche: Eine noch tiefere Zerrissenheit der patriotischen und demokratischen Kräfte", antwortete Juschtschenko auf Einigungsappelle der Ex-Premierministerin, die bei ihrem Auftritt vor den Demonstranten zudem lautstark von Aktivisten der radikalen Nationalistenpartei "Swoboda", die ebenfalls gegen das Flottenabkommen protestierten, gestört wurde. Die gut bekannte Zerstrittenheit der ehemaligen orangen Führung setzt sich auch in der Opposition fort.
Damit hat Präsident Janukowitsch freie Bahn für seine politischen Projekte. Ob er mit dem Abkommen innenpolitisch wirklich punkten kann, ist allerdings fraglich: Die Zeitung "Kommersant", die auf russisch erscheint und nicht als national-ukrainisches Sprachrohr gelten kann, mutmaßt bereits, Janukowitsch habe sich vom Kreml "über den Tisch ziehen lassen": So habe Russland bei der Beförderung von Gas durch die Ukraine keine genauen Verpflichtungen auf sich genommen, die Ukraine, die mehr Gas kaufen müsse, hingegen sehr wohl. Zudem wurde nicht der Gaspreis, sondern nur ein Rabatt auf diesen Preis vereinbart: Steigen die Gaspreise wieder, schmilzt die Ersparnis dahin. Und Drittens, so der Kommersant, hätte man wesentlich mehr Geld aus der Verpachtung des Militärstützpunkts Sewastopol herausholen können. In nicht allzu ferner Zukunft müssten wohl die Schulden bei Russland gegen ukrainische Vermögenswerte eingetauscht werden.
Anteile abgegeben?
Erste Schritte dazu könnten allerdings bereits gesetzt worden sein. Medienberichten zufolge wurde in Charkow beim Treffen Medwedew-Janukowitsch nicht nur über Gaspreis und Flotte gesprochen: So soll angeblich das ukrainische Gasleitungssystem unter starker russischer Beteiligung - von mindestens 50 Prozent ist die Rede - modernisiert werden. Auch Kontrollanteile an den ukrainischen Flugzeugbauwerken - die bekannte "Antonow" wird in der Ukraine gefertigt - sollen angeblich Russland übertragen worden sein. Was Befürworter der Regierungspolitik als pragmatisches, zielorientiertes Handeln zum Vorteil beider Partner sehen, bezeichnen Kritiker wie der Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew, Kyryl Savin, als "Schlag gegen die Souveränität und wirtschaftliche Handlungsfähigkeit der Ukraine". Janukowitsch habe mit den Verträgen bloß seinen Sponsoren aus dem Donezbecken billiges Gas verschafft.
Das Thema "Krim" emotionalisiert in der Ukraine schon seit langem. Die Halbinsel am Schwarzen Meer, die von Russen und Krimtataren bewohnt wird, war bis 1954 Teil der russischen Sowjetrepublik. Aus Anlass des 300-jährigen Jubiläums der Rada von Perejaslaw von 1654, bei der sich der von Polen bedrängte ukrainische Kosakenstaat dem Russischen Reich anschloss, schlug Sowjetführer Nikita Chruschtschow die Krim der Ukraine zu. Nach 1991 wurde die Halbinsel zum Zankapfel zwischen den beiden Staaten.