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Tunesiens Präsident Zine El Abidine Ben Ali zählt zu den schärfsten Gegnern des religiösen Fundamentalismus unter den moslemischen Staatsoberhäuptern. Schon vor seiner Ernennung zum Präsidenten warnte er den tunesischen Staatsgründer Habib Bourgiba vor einer wachsenden Bedrohung der tunesischen Gesellschaft durch Extremisten unter dem Deckmantel der Religion. Diesen Kurs hat er als Präsident konsequent fortgesetzt. In einem längeren Gespräch mit unserem Mitarbeiter Lucian O. Meysels - seinem ersten mit einem österreichischen Journalisten - nahm der Präsident zu den jüngsten Terroranschlägen in den USA, dem islamischen Fundamentalismus, der Krise im Nahen Osten und den Zukunftsproblemen seines Landes Stellung.
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"Wiener Zeitung": Wie reagiert Tunesien auf die schrecklichen Terroranschläge in den USA?
Ben Ali: Wir haben die Terroranschläge in New York und Washington sofort verurteilt. Wir haben gleich nach den tragischen Ereignissen dem amerikanischen Volk und seiner Regierung unser Mitgefühl und unsere Sympathie ausgedrückt. Wir glauben, dass nichts, aber schon gar nichts diese kriminellen Anschläge rechtfertigen kann, die so viele Opfer erfordert haben. Alle müssen, ohne Einschränkungen, diese schrecklichen Verbrechen verurteilen.
Bestätigen die jüngsten Ereignisse jene Wachsamkeit, welche ihr Land schon seit Jahren gegenüber dem radikalen islamischen Fundamentalismus praktiziert hat?
Unsere Einstellung beruht auf unserer prinzipiellen und tief verankerten Ablehnung des Terrorismus in jeder Spielform und in allen seiner Manifestationen. Schon seit vielen Jahren versuchen wir die internationale Gemeinschaft vor der terroristischen Gefahr zu warnen. Wir sind zutiefst überzeugt, dass sich die Terror-Handlungen gegen den Lauf der Geschichte und jene Bemühungen der Menschheit richten, welche sich Beziehungen auf der Basis der Kooperation und des Dialogs zum Ziel gesetzt haben.
Was soll, ja muss, nach Ihrer Meinung nun geschehen?
Wir haben alle Nationen zu konzertierten Aktionen aufgerufen, um den Terror wirksam zu bekämpfen. Und jede Form der Unterstützung von Personen zu verhindern, welche an Terroraktionen beteiligt sind oder diese fördern. In den Vereinten Nationen und regionalen Gremien haben wir für enge Zusammenarbeit gegen den Terrorismus und Extremismus plädiert. Wir haben in diesem Zusammenhang auch auf die Gefahren hingewiesen, welche sich aus verbalen Aufrufen zu Hass, Gewalt, Fanatismus und Rassismus ergeben. Solchen Aufrufen ist als Manifestationen des Terrors entgegenzutreten.
Konkret: Wie soll das geschehen?
Wir rufen auf zur Verstärkung der Zusammenarbeit innerhalb der internationalen Gemeinschaft, um die Suche nach einer friedlichen Lösung aller regionalen Konflikte zu fördern - um dadurch die Zentren der Spannungen einzuengen - jener Spannungen, welche fundamentalistische Bewegungen auszunutzen suchen. Aus Gründen, welche in keiner Relation zu humanitären Anliegen stehen. Ich habe dazu bereits in den frühen neunziger Jahren aufgerufen, in Interviews mit französischen, japanischen und anderen Journalisten. Ich habe immer wieder die Notwendigkeit einer internationalen Zusammenarbeit betont, um Terrorismus, Extremismus und Fanatismus zu bekämpfen.
Nicht wenige Länder kämpfen mehr oder weniger vergeblich gegen den religiösen Fundamentalismus. Wie ist es Ihrem Land gelungen, die Kräfte effektiv im Schach zu halten?
Die Stabilität, derer sich Tunesien erfreut und unsere Erfolge auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet zeigen, dass dieses Kapitel nun der Vergangenheit angehört. Bei der Auseinandersetzung mit diesem Problem sind wir bei politischen und sicherheitsbehördlichen Maßnahmen nicht stehen geblieben. Vielmehr haben wir eine Strategie angewandt, die sich den sozialen, ökonomischen, erzieherischen und kulturellen Wurzeln des Extremismus entgegen gestellt hat. Und wir haben den Anspruch des Staats klar gestellt, alleiniger Beschützer der Religion zu sein und für deren Pflege selbst zu sorgen. Keinem sonst ist es erlaubt, die Stellvertreterrolle für sich zu beanspruchen, oder sich der Religion als Maske oder Alibi zu bedienen und unlautere Ziele zu verfolgen.
Hat dies zur Bewältigung des Problems genügt?
Dass wir den religiösen Extremismus erfolgreich überwunden haben, hängt mit dem gleichzeitigen Erfolg einer umfassenden Reform zusammen, die flächendeckend sämtliche Landesregionen und ohne Ausgrenzung sämtliche Gesellschaftsgruppen umfasst hat. Dabei ist es uns gelungen, die Armut weitgehend zu eliminieren und zurückgebliebene Gebiete weiterzuentwickeln, um sie in den wirtschaftlichen Kreislauf zu integrieren.
In anderen islamischen Ländern versuchen die Fundamentalisten, sich in das Bildungssystem "einzuklicken"...
Unsere großangelegte Bildungsreform ist Teil derselben umfassenden Entwicklungsstrategie, die davon ausgeht, dass die Schule jene Keimzelle darstellt, welche die Heranbildung von Generationen von Bürgern sichert, die vom Geist der Toleranz und der Öffnung erfüllt ist. Gleichzeitig haben wir uns um die Förderung der Frauen gekümmert und dafür gesorgt, ihnen zur Gleichberechtigung und Partnerschaft mit den Männern zu verhelfen.
Welche Rolle spielt dabei die Wirtschaft?
Ich möchte zuallererst betonen, dass wir in Tunesien einen Weg eingeschlagen haben, der es vermeidet, einen Bereich, ob es der wirtschaftliche, der soziale oder politische ist, auf Kosten der anderen zu begünstigen. Wir haben uns auf eine Strategie festgelegt, die wirtschaftliche und soziale Reformen miteinander harmonisiert. Es ließen sich noch viele Fakten anführen, als Beweis, wie sicher unser Land heute vor einer (fundamentalistischen) Bedrohung ist: Eine Wachstumsrate von annähernd 5 Prozent, ein Pro-Kopf-Einkommen, das sich in zehn Jahren auf das Zweieinhalbfache erhöht hat, eine Armutsrate, die auf 4,2 Prozent geschrumpft ist. Unser Mittelstand umfasst 80 Prozent der Bevölkerung, ebenso viele wohnen in eigenen Häusern und 99 Prozent der Kinder gehen zur Schule. All diese Fakten beweisen, dass sich der Fortschritt nicht umkehren lässt und dass die Agenten der Gewalt keine Chance haben. Das gilt auch für jene, die den Anspruch für sich erheben, Vertreter der Religion zu sein.
Gewährt die Verfassung auch der Opposition das Recht auf freie Meinungsäußerung?
Nach einer Reihe von Gesetzesänderungen in den letzten Jahren verfügt das Land über eine Verfassung, die nicht nur das Recht auf Gesinnungs- und Meinungsfreiheit garantiert, sondern auch die Gründung von Parteien, Vereinen und Institutionen freistellt. Zugleich ist die Verfassung der beste Garant des Rechtsstaates. Das begünstigt das Wirken der Opposition, versetzt diese in die Lage, ihre Standpunkte zum Ausdruck zu bringen und ihre Vorstellungen in aller Öffentlichkeit zu verkünden. Eine der jüngsten Entwicklungen betrifft die Novellierung des Pressegesetzes, welche den problematischen Artikel 5 abschafft, der sich auf das Delikt der "Beleidigung der öffentlichen Ordnung" bezog.
Wie stark ist die offizielle Opposition?
Das novellierte Wahlgesetz sieht vor, dass 20 Prozent der Mandate auf jeden Fall der Opposition zustehen (Tunesien hat ein Mehrheitswahlrecht mit Ein-Mann-Wahlkreisen, das es der Regierungspartei theoretisch ermöglichen würde, alle Mandate zu erobern; Anm. des Interviewers). Darüber hinaus ist die Opposition in 62 Gemeinderäten vertreten und wir sind stets bestrebt, uns mit ihr zu beraten. Die Demokratie ist für uns unumkehrbar. So sehr wir bestrebt sind, diese Entwicklung zu fördern, so sehr sind wir andererseits fest entschlossen, die Demokratie vor Extremismus, Gewalt und Radikalismus zu schützen, um unsere Errungenschaften zu sichern.
Kehren wir auf die internationale Bühne zurück: Welche Rolle kann Tunesien - als gemäßigtes Land - spielen, um den Friedensprozess im Nahen Osten noch zu retten?
Wie Sie zweifellos wissen, hat Tunesien wesentlich dazu beigetragen, den Friedensprozess erst einmal in Gang zu setzen. Auf unserem Boden kam es zu den ersten direkten Kontakten zwischen den Amerikanern und den Palästinensern. Seitdem hat Tunesien alle bi- und multilateralen Etappen dieses Prozesses begleitet. Wir haben nie aufgehört, alle Bemühungen und Initiativen zu unterstützen, um eine umfassende, gerechte und dauerhafte Lösung zu erreichen - auf der Grundlage "Land für Frieden". Wir glauben, dass die Sicherheit der Völker der Region nur durch einen umfassenden Frieden gewährleistet werden kann, der die Rechte aller Beteiligten berücksichtigt. Ebenso glauben wir, dass die Anwendung von Gewalt als Mittel, anstehende Konflikte zu lösen, nur dazu führt, Hass und Rachegefühle erst recht zu nähren. Gewalt steht im Widerstand zu jeder friedlichen Lösung, die sich auf Dialog, Verständigung und Diplomatie konzentriert. Also jene Faktoren, welche dem Friedensprozess ursprünglich zugrunde lagen.
Ist unter den gegenwärtigen Umständen der Friedensprozess noch zu retten?
Die Rettung des Friedensprozesses aus der Misere, in die er geraten ist, stellt eine internationale Herausforderung dar. Tunesien bleibt nach wie vor entschlossen, zu allen Bemühungen beizutragen, mit dem Ziel, den Prozess wieder auf das richtige Gleis zu bringen - unter Berücksichtigung des Völkerrechts und der UN-Beschlüsse.
Davon ist aber momentan nicht viel zu sehen. . .
Deshalb bereitet uns die Lage im Nahen Osten große Sorge. Tunesien wird nicht aufhören, vor den Gefahren einer Eskalation zu warnen, die dazu führen könnte, die ganze Region in eine Dynamik der Gewalt hineinzureißen. Sie könnte jenen fatalen Punkt erreichen, von dem es kein Zurück mehr gibt. Tunesien wirkt zusammen mit befreundeten und verbrüderten Ländern sowie allen relevanten internationalen Stellen, sei es im Rahmen unserer bilateralen Beziehungen oder als Mitglied des Weltsicherheitsrates, um die Lage in den Griff zu bekommen: Damit die Verhandlungen wieder aufgenommen werden, um einen gerechten, umfassenden und dauerhaften Frieden in der Region herbeizuführen. Gemäß dieser Prinzipien glauben wir, dass die Beendigung der Krise von der Lösung des Kernproblems, der Palästinenserfrage, abhängt. Zur Verankerung des Friedens gehört auch die Rückgabe der noch immer besetzten Gebiete Syriens und des Libanon.
Hat sich die Nahostkrise auf das Verhältnis zwischen der Mehrheitsbevölkerung Tunesiens zur jüdischen Minderheit ausgewirkt?
Toleranz ist ein Wesenszug unserer Tradition. Pluralismus - ob konfessioneller, kultureller oder politischer Natur - ist eine in unserer Gesellschaft fest verankerte Erscheinung. Jahrhundertelang haben Tunesier - Moslems und Juden - unter demselben Himmel und im Schatten desselben Staates zusammengelebt. Alle haben zum Aufbau unseres großartigen Heimatlandes beigetragen. Diese Toleranz hat die Beziehungen zwischen den beiden Gemeinden geregelt und gleichzeitig das Aufkommen von Hassgefühlen zwischen ihnen verhindert. Wir bekennen uns zum Recht der Minderheiten auf Pflege ihrer eigenen Kultur und Traditionen, auf der Basis beiderseitigen Respekts und gegenseitiger Toleranz.
Zuletzt eine Frage, welche viele Österreicher beschäftigt: Es besteht große Unsicherheit - die ich für unberechtigt ansehe - bei Reisen in islamische Länder nach den Ereignissen in New York. Ist für die Sicherheit der Touristen in Tunesien gesorgt?
Heute steht Tunesien in der ersten Reihe jener Länder, die das Vertrauen nicht nur der Besucher, sondern auch der ausländischen Investoren in hohem Maße gewonnen haben und die den Touristen die Gewissheit geben, dass er um seine Sicherheit und sein Wohlergehen nicht fürchten muss.
Können wir Sie selbst einmal auf Staatsbesuch in Wien erwarten?
Gewiss würde ein Zusammentreffen mit höchsten Vertretern, ob in Tunesien oder Österreich, dazu beitragen, unsere guten Beziehungen weiter zu festigen. Wir hoffen auf ein solches Treffen, sobald es die Umstände gestatten.