Votum sorgte für Euphorie, 90 Prozent der eingetragenen Wähler nahmen teil.
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Tunis. Der Favorit hat Anlass, optimistisch zu sein. Die islamistische An-Nahda-Partei liegt bei der Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung in Tunesien ersten Teilergebnissen zufolge in Führung. Unter großem Andrang fand am Sonntag in dem Land, von dem der arabische Frühling ausging, das erste Votum seit dem Sturz von Langzeitherrscher Zine el-Abidine Ben Ali statt. Die Endergebnisse wurden für Dienstag erwartet, in den ersten Prognosen kam die An-Nahda auf 25 bis 50 Prozent.
Beobachter rechneten aber damit, dass die unter Ben Ali verfolgte Bewegung keine absolute Mehrheit erzielen wird, sondern Koalitionspartner benötigen wird. Das könnte aber schwierig werden. Denn der Anführer der An Nahda, Rachid Ghannouchi, betont zwar immer wieder, dass er eine Demokratie und keinen Gottesstaat mitgestalten und sich nicht in das Privatleben der Bürger einmischen will. Doch viele säkulare Bewegungen misstrauen der Islamisten-Partei und haben schon im Vorfeld der Wahl eine Koalition mit der An-Nahda eine Absage erteilt.
Quer durch alle Parteien bezeichneten die Politiker die erste Wahl nach den diktatorischen, bleiernen Jahren unter Ben Ali als historischen Augenblick für Tunesien. Das Votum ist nach dem Aufstand gegen den kleptokratischen Familien-Clan von Ben Ali nun weiterer Schub Richtung Demokratie. Die Beteiligung übertraf alle Erwartungen, laut offiziellen Stellen gaben etwa 90 Prozent der eingetragenen Wähler ihre Stimme ab.
"Ich habe selten so eine Begeisterung für eine Wahl erlebt", berichtet im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" die SPÖ-Abgeordnete Christine Muttonen, die für das österreichische Parlament im Rahmen einer Mission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) als Wahlbeobachtern tätig war. Ein junger Mann hätte ihr berichtet, dass er die ganze Nacht nicht schlafen konnte, weil er so aufgeregt darüber war, dass er nun seine Zukunft mitbestimmt. Schon in den Morgenstunden hatten sich lange Warteschlangen gebildet, die Leute waren stundenlang angestanden und nach Schließung der Wahllokale hatte sie ein Hupkonzert erlebt, mit dem das Votum gefeiert wurde, erzählt Muttonen, die in mehreren Dörfern in der Region Sousse Wahllokale besuchte.
Beziehung Staat-Religion wird nun geklärt
Die verschiedenen internationalen Beobachtermissionen werden ihre Endberichte erst vorlegen, sie ließen aber schon anklingen, dass die Wahl als fair und frei eingestuft werden wird. Die Konstituierende Nationalversammlung, deren Mandat auf ein Jahr beschränkt ist, soll nun einen Übergangspräsidenten bestimmen und eine neue Verfassung ausarbeiten. Dabei werden entscheidende Fragen wie etwa die Beziehung zwischen Staat und Religion behandelt werden.
Und hier tun sich Gräben auf. Dies zeigte sich bei der Stimmabgabe von Islamistenführer Ghannouchi. "Mörder! Terrorist! Verschwinde!", riefen aufgebrachte Passanten dem bärtigen 70-Jährigen zu, der für andere Tunesier als ehemals politisch Verfolgter ein Held ist.
Einige säkulare Kräfte fürchten eine Unterwanderung des Staates durch die An-Nahda-Partei. Ghannouchi war ständig bemüht, diese Ängste zu zerstreuen und nannte als Vorbild die moderaten Islamisten der AKP, die in der Türkei die Regierung stellen. Die tunesische An-Nahda ist sich aber laut Politanalysten noch gar nicht einig, welchen Kurs sie in Zukunft fahren soll. Innerhalb der Bewegung soll es Richtungsstreitigkeiten zwischen moderaten und radikalen Kräften geben.
An zweiter Stelle könnte laut den ersten Auszählungen mit der Kongress-Partei für die Republik eine linke Bewegung landen. Dies wäre ein Rückschlag für die liberale Demokratische Fortschrittspartei, die unter den säkular ausgerichteten Gruppierungen als stärkste Kraft galt.
Für die 217 Sitze in der Versammlung kandidierten insgesamt 11.618 Bewerber. Bei sämtlichen antretenden Bewegungen mussten Frauen mindestens die Hälfte der Kandidaten stellen. Doch waren diese oft weit hinten gereiht, weshalb die Versammlung von Männern dominiert werden dürfte. Muttonen berichtete aber, dass junge Frauen ihr gegenüber angekündigt haben, auf die Straße zu gehen, sollten sie sich von der Nationalversammlung nicht vertreten sehen. Der Geist der Revolution scheint also im Pionierstaat des arabischen Frühlings weiterzuleben.