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Türkei: Erdogan holt junge Reformer in seine Regierung

Von Susanne Güsten

Europaarchiv
"Landesvater" Recep Tayyip Erdogan posiert vor einem Bild Kemal Atatürks. Foto: ap

Konsenssuche für Präsidentenamt. | CHP-Chef Baykal will nicht abtreten. | Präsidentenwahl: Sener als Kandidat? | Istanbul. (apa) So mancher Türke erkennt Recep Tayyip Erdogan seit Sonntag nicht wieder. Aus dem aggressiven Wahlkämpfer ist plötzlich ein landesväterlich auftretender Staatsmann geworden. Der Premier kündigt Treffen mit seinen politischen Gegnern an und spricht von Kompromissen in der heftig umstrittenen Präsidentenfrage: Alles, was er noch letzte Woche auf den Marktplätzen über die anderen Parteien gesagt habe, sei vergessen und vorbei, verkündete der 53-jährige. "Wir schlagen eine neue Seite auf." Zu der neuen Seite gehört auch Erdogans neues Kabinett, das in den kommenden Wochen die Arbeit aufnehmen soll. Die Namen, die für Schlüsselpositionen genannt werden, sind deutliche Signale an Europa und an die Wirtschaft: Junge Reformer stehen in den Startlöchern.


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#Konsenskandidat

Mit 340 Abgeordneten im Parlament ist Erdogans AK-Partei zwar die bestimmende Kraft, doch fehlen ihr für die Wahl des Staatspräsidenten noch mindestens 27 Mandate. Deshalb ist Erdogan auf einen Kompromiss angewiesen. Die große Frage ist, ob Erdogans Außenminister Abdullah Gül an seiner Präsidentschaftskandidatur festhält. In Ankara wird spekuliert, dass Gül seinen Verzicht auf die Präsidentschaft verkünden wird, um die Suche nach einem Konsenskandidaten im neuen Parlament zu erleichtern.

Eine Bemerkung Erdogans fachte diese Spekulationen noch weiter an: Für ihn sei sehr wichtig, was Gül selbst über die Zukunft seiner Kandidatur denke, sagte er. Damit habe Erdogan angedeutet, dass der Außenminister seine Präsidentschaftsambitionen aufgeben könnte, kommentierten die Zeitungen. Als möglicher Konsenskandidat ist der bisherige Vizepremier Abdüllatif Sener im Gespräch, der selbst bei den oppositionellen Kemalisten als annehmbar gilt. Der neue Anlauf für die Wahl des Staatspräsidenten im Parlament wird Anfang September erwartet, weil zuerst die neue Regierung gebildet werden soll.

Falls sich Gül entschließen sollte, seine Präsidentschaftskandidatur aufzugeben, ist ihm der Verbleib im Außenamt sicher. Doch auch für den Fall, dass Gül das Außenministerium in Richtung Präsidentenpalast verlassen sollte, hat Erdogan vorgesorgt. Der bisherige Verhandlungsführer der türkischen EU-Beitrittsgespräche, der 40-jährige Ali Babacan, wird ebenso als Kandidat für den Außenministerposten genannt wie Erdogans außenpolitischer Berater, Egemen Bagis, der mit seinen 37 Jahren als einer der hellsten Köpfe in der Umgebung des Ministerpräsidenten gilt. Babacan wie Bagis sind überzeugte Verfechter des türkischen Europa-Kurses.

Auch in der Wirtschaftspolitik wird sich möglicherweise am Regierungspersonal, aber kaum etwas an der pro-westlichen Ausrichtung ändern. Einer der Favoriten für einen Spitzenposten in der Wirtschafts- oder Finanzpolitik ist der 40-jährige Investmentbanker Mehmet Simsek.

Während Erdogan über sein neues Kabinett nachdenkt, geht bei der oppositionellen Kemalisten-Partei CHP die "Vogelstrauß-Politik" weiter, wie ein Fernsehsender am Dienstag kommentierte. Die CHP hatte sich als Wahlziel gesetzt, den von ihr als Islamisten verteufelten Erdogan abzulösen. Dann musste sie aber mit ansehen, wie Erdogan ein Rekordergebnis von mehr als 46 Prozent einfuhr, während sie selbst mit 21 Prozent weit abgeschlagen auf dem zweiten Platz landete. Parteiinterne Dissidenten und selbst CHP-nahe Zeitungen fordern einen Rücktritt von CHP-Chef Deniz Baykal sowie einen programmatischen Neuanfang der Partei.

Bekannte Parolen

Baykal selbst tauchte am Dienstag erstmals seit der Wahl aus der Versenkung auf und wies alle Rücktrittsforderungen zurück. Er wiederholte sogar seine Parolen aus dem Wahlkampf, ganz so, als wäre seine Partei nicht vom Wähler abgestraft worden. Die Wahl habe die "Gefahr für die Republik" nicht ausgeräumt, warnte Baykal. Diese Gefahr bestehe weiter und müsse bekämpft werden, sagte er in Anspielung auf Erdogans AK-Partei. Dass fast jeder zweite Türke für die konservativ-islamische AK-Partei gestimmt hat, stört Baykal nicht weiter: Für ihn ist das Volk eine Gefahr für den Staat. 10