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Türkei: Erster Prozess um "tiefen Staat"

Von Susanne Güsten

Europaarchiv

86 Nationalisten auf 2500 Seiten des Umsturzversuchs beschuldigt. | Mit Terror sollte Chaos erzeugt werden. | Istanbul. Eigentlich war das Gefängnis von Silivri nicht nur wegen Sicherheitsgründen, sondern auch wegen seiner Größe gewählt werden. Der Gebäudekomplex, in einer Stadt westlich von Istanbul am Marmara-Meer gelegen, versprach Geräumigkeit, fasst er doch auch 11.000 Häftlinge. Gleich zum Auftakt des Prozesses stellte sich aber heraus, dass der Verhandlungssaal zu klein war für die 86 Angeklagten, unter ihnen ein ehemaliger General. Diese sollen als Mitglieder der Terrorgruppe "Ergenekon" einen Umsturz gegen die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan geplant haben. Der Richter musste schließlich vertagen, um über einen anderen Verhandlungsort zu beraten.


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Die "Ergenekon"-Anklageschrift der Staatsanwaltschaft ist 2500 Seiten lang; das Beweismaterial füllt mehr als 440 Aktenordner. Drei Staatsanwälte ermittelten mehr als ein Jahr und erwirkten Haftbefehle gegen einige der prominentesten Nationalisten des Landes. Zwei weitere ehemalige Generäle sollen ebenfalls zu "Ergenekon" gehören; die Anklage gegen die beiden ist aber noch nicht fertig.

Mord an Pamuk geplant?

Die Liste der in Silivri Angeklagten, von denen 46 in Untersuchungshaft sitzen, liest sich wie ein Who is Who radikaler türkischer Reformgegner. Da ist Ex-General Veli Kücük, der an der Spitze von "Ergenekon" gestanden sein soll. Da ist der Rechtsanwalt Kemal Kerincsiz, der Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk wegen "Beleidigung des Türkentums" vor den Kadi brachte. Da ist Dogu Perincek, der Chef einer nationalistischen Splitterpartei, der im vergangenen Jahr wegen Leugnung eines türkischen Völkermordes an den Armeniern in der Schweiz vor Gericht stand.

Laut Staatsanwaltschaft sammelte die "Ergenekon"-Bande, die ihren Namen nach der mythischen Heimat der Türken in Zentralasien wählte, Waffen und Sprengstoff für Anschläge, ordnete Morde an und bereitete andere Gewaltakte vor. Pamuk berichtete, er sei Anfang des Jahres über einen gegen ihn gerichteten "Ergenekon"-Mordplan unterrichtet worden. Damals sei sein Polizeischutz verstärkt worden.

Die Anklage gegen die Hauptbeschuldigten lautet auf Gründung und Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation sowie auf bewaffneten Umsturzversuch. Durch ihre Gewalttaten habe "Ergenekon" die Türkei in ein Chaos stürzen und einen Militärputsch provozieren wollen.

In der Anklageschrift wird die Gruppe unter anderem mit dem Mord an einem Richter des Obersten Verwaltungsgerichts in Ankara 2006 in Verbindung gebracht: Die Bluttat wurde damals als Aktion eines Islamisten präsentiert, der gegen das Kopftuchverbot protestieren wollte - mit solchen Verbrechen sollte die islamisch geprägte Regierung Erdogan in Verruf gebracht werden. Auch mit dem Tod des türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink und den Morden an drei Christen in Malatya im vergangenen Jahr wurde "Ergenekon" in Verbindung gebracht.

Konflikt um Atatürks Erbe

Getrieben wurde die Bande von dem in der Türkei tief verwurzelten Gedanken, dass Atatürks Staat mit allen Mitteln vor Kritik und nötigenfalls auch vor der Regierung geschützt werden muss. Diese Ideologie des sogenannten "tiefen Staates" steht ab Montag mit vor Gericht. Das Verfahren wird deshalb schon jetzt als Meilenstein für die türkische Demokratie gewertet: Zum ersten Mal geht die Justiz energisch gegen den "tiefen Staat" vor und schreckt dabei auch nicht vor der Verhaftung ehemaliger Generäle zurück. Allein die Tatsache, dass der Prozess überhaupt zustande gekommen sei, bilde einen "Wendepunkt für die Demokratie und das Recht in der Türkei", schrieb der angesehene Kolumnist Hasan Cemal.

Begleitet wird der Prozess allerdings von einem heftigen politischen Streit. Die kemalistische Opposition steht mit ihrer Atatürk-Verehrung und ihrer Verteufelung der Erdogan-Regierung einigen "Ergenekon"-Angeklagten nahe.

Als Journalisten der kemalistischen Zeitung "Cumhuriyet" im Zusammenhang mit den "Ergenekon"-Ermittlungen vorübergehend festgenommen wurden, war das für Oppositionschef Deniz Baykal der Beweis, dass die Regierung die Staatsanwälte lenke.