Ankara - Er ist parteilos, hat keinen Sitz im Parlament und war der Öffentlichkeit daheim und im Ausland bis vor 18 Monaten noch völlig unbekannt. Jetzt steht der eben zurückgetretene türkische Wirtschaftsminister Kemal Dervis im politischen Rampenlicht, und vor den Neuwahlen am 3. November sehen viele in ihm den Hoffnungsträger für eine neue Türkei.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 22 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Dervis (53) gilt als Architekt der Reformen zur Sanierung der maroden Wirtschaft des Landes. Der ehemalige Professor und angesehene Weltbankexperte war Anfang vergangenen Jahres zum Minister ernannt worden, um die Türkei aus der schwersten Wirtschaftskrise seit Ende des Zweiten Weltkriegs zu führen. Er war federführend in den Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zur Gewährung eines Hilfskredits über 16 Milliarden Dollar (16,4 Mrd. Euro).
Nach seinem nicht überraschenden Rücktritt am Samstag aus dem Kabinett des schwerkranken Ministerpräsidenten Bülent Ecevit wird nun erwartet, dass Dervis der neu gegründeten Partei Neue Türkei von Ex-Außenminister Ismail Cem beitritt. Cem, einer der bekanntesten türkischen Politiker im Ausland, hatte bereits im Juli die Regierung verlassen, um eine neue sozialdemokratische Partei zu gründen und das Land in die Europäische Union zu führen.
Gespräche mit Cem
Dervis traf am Sonntag zu längeren Gesprächen mit Cem zusammen. Seinen Beitritt gab er aber nicht bekannt, sondern sagte lediglich, man werde weiter für die "Zukunft der Türkei" zusammenarbeiten. Cem meinte, es mache keinen Unterschied, ob Dervis heute oder später der Partei beitrete: "Das ist ein Sprint, kein Marathon."
Der Wirtschafts- und Finanzwelt wäre ein Schulterschluss von Dervis und Cem sehr willkommen. Die größte Sorge von Investoren und dem säkular ausgerichteten Militär ist die Aussicht, dass die islamistische Gerechtigkeits- und Wahrheitspartei (AKP) bei den Wahlen große Gewinne erzielen könnte. Die AKP ist derzeit bemüht, sich von ihrem "islamischen" Image zu distanzieren. Doch viele Beobachter vermuten, dass die Partei das auf der Trennung von Staat und Religion basierende Recht ändern und einen Annäherungskurs an die arabischen Nachbarn einschlagen will.
Wählerschaft gespalten
Die Mitte-Rechts-Wählerschaft ist gespalten, und Ecevits Partei der Demokratischen Linken wird aller Voraussicht nach bei den Wahlen zur politischen Bedeutungslosigkeit reduziert werden. Vor dem Hintergrund des jüngsten Austritts von über 60 Parlamentariern und Politikern aus Ecevits Regierung und Partei sehen viele jetzt Dervis und Cem als die einzigen Hoffnungsträger, die das Land wirtschaftlich wieder auf die Füße bringen und in die EU führen können.
Lieblinge der Medien
Ohne Dervis könnte Cems neue Partei leicht die notwendige Marge von zehn Prozent für eine parlamentarische Vertretung verfehlen. Mit ihm an Bord könnte ihr allerdings eine Schlüsselrolle bei der Bildung einer neuen Regierung zufallen, mit Cem als möglichem Regierungschef. Cems Partei Neue Türkei sowie Dervis als potenzielles Mitglied sind derzeit die Lieblinge der türkischen Medien und der eher kleinen Führungsschicht des Landes. Die Frage ist allerdings, ob die breite Masse und die traditionell konservativ eingestellten Bauern die Lage genauso sehen.