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In der Türkei dreht sich im Moment alles um die Überwindung der schweren Wirtschaftskrise - die Annäherung an die Europäische Union ist angesichts der Turbulenzen auf den Finanzmärkten völlig in den Hintergrund getreten.
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Als Folge der Krise sind Hunderttausende arbeitslos geworden, Zehntausende Betriebe Bankrott gegangen. Selbst Menschen, die noch Arbeit haben, müssen sich jeden Monat den Kopf zerbrechen, wie sie überleben können. Denn die Lira hat im Vergleich zum Dollar um mehr als 50 Prozent an Wert verloren. Die Löhne und Gehälter sind teilweise gekürzt worden, die Preise rapide gestiegen. Angesichts der schlechten Stimmung sind Zehntausende bereit, ihre Heimat zu verlassen.
Niedrigere Gehälter, höhere Preise
Jeden Morgen bilden sich vor den Konsulaten und Botschaften lange Schlangen. Hunderte Menschen stellen jeden Tag Anträge, hoffen auf ein Visum und eine bessere Zukunft in Deutschland, den Niederlanden, den USA, Kanada oder Australien. "Ich will mein Glück in Amerika versuchen und in New York ein Geschäft aufbauen", sagt ein Istanbuler Teppichhändler. Ein Taxi-Fahrer träumt von einem Arbeitsvisum für Deutschland: "Ich habe gehört, dass Deutschland Arbeiter sucht, ist das richtig?" Als er hört, dass nicht Arbeiter, sondern hoch qualifizierte Experten gebraucht werden, ist er enttäuscht.
Der Traum vom Westen
"Die Regierung kann man vergessen, die macht gar nichts. Unsere Lage hat sich in den vergangenen Monaten nur verschlechtert", schimpft ein Bus-Fahrer. Vermutlich bemühen sich derzeit auch deshalb so viele Leute um ein Visum, weil sie nicht mehr daran glauben, dass die Türkei bald Vollmitglied der Europäischen Union werden wird. Ende 1999, als die Türkei nach langen Jahren des Wartens auf dem EU-Gipfel im finnischen Helsinki Beitrittskandidat wurde, herrschte wochenlang eine EU-Euphorie. Die türkische Regierung vermittelte den Menschen damals die Hoffnung, dass bald mit konkreten Verhandlungen begonnen werden könne. Jetzt ist die Türkei zwar Beitrittskandidat, konkrete Verhandlungen stehen aber noch lange nicht zur Debatte.
Dafür wären nämlich weitere Reformen notwendig - doch die Regierung versucht seit Monaten, das Land vor dem wirtschaftlichen Untergang zu bewahren. Daher ist die Türkei auch noch weit davon entfernt, die so genannten Kopenhagener Kriterien zu erfüllen, die Mindestanforderungen an Demokratie und Menschenrechte stellen. Eine umfassende Verfassungsänderung ist erst einmal auf Herbst verschoben worden. Das Problem der Todesstrafe ist ebenfalls noch nicht gelöst. Kritik aus Europa handelte sich die Türkei auch mit dem Verbot der Hauptopposition, der islamistischen Tugend-Partei (FP), ein. Auch die gespannte Lage in den türkischen Gefängnissen wird in Europa kritisch beobachtet.
Reform des Strafvollzugs
Seit mehr als acht Monaten hungern linksextremistische Häftlinge aus Protest gegen die Einführung eines Zellensystems. Die Häftlinge fordern Reformen des Strafvollzugs sowie die Abschaffung der Anti-Terror-Gesetze und der Staatssicherheitsgerichte. Bisher haben sich bereits 29 Menschen zu Tode gehungert. Die Regierung bleibt trotz der Toten hart und will nicht mit den "Terroristen" verhandeln. Diese und andere Beispiele sind sicher kein gutes Aushängeschild für die Türkei. Beobachter hoffen, dass das Land mit Hilfe von Milliardenkrediten des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank bald die schwere Krise überwinden wird, um dann seine Hausaufgaben in Sachen Demokratie und Menschenrechte zu machen.