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Istanbul · Eineinhalb Stunden lang diskutierten die türkischen Koalitionspartner am Dienstagabend über den Aufruf des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes, dann gaben sie auf und | vertagten die Entscheidung. Die Bitte der Richter, die Hinrichtung von PKK-Chef Abdullah Öcalan bis zum abschließenden Urteil im Straßburger Verfahren auszusetzen, kam auch für Ankara nicht | überraschend; dass die Regierungskoalition es in der eilig einberufenen Sondersitzung trotzdem nicht schaffte, sich auf eine Antwort zu einigen, zeigt wie schwer ihr die Entscheidung fällt.
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Keine zehn Tage vor dem Gipfel der Europäischen Union in Helsinki steht die Türkei nun endgültig am Scheideweg zwischen der lange ersehnten Rache an dem Rebellenchef und dem noch länger
angestrebten Aufbruch nach Europa. Und für welche der beiden Möglichkeiten sich die Türkei entscheiden soll, ist seit der Bitte aus Straßburg umstrittener denn je: Öcalan habe es mit einem 15-
jährigen Krieg nicht vermocht, die Türkei zu spalten, schreibt der Leitartikler Semih Idiz: "Doch die Frage, ob Öcalan hingerichtet werden soll oder nicht, spaltet jetzt das Land."
Ministerpräsident Bülent Ecevit begründete die Vertagung der Entscheidung damit, dass das juristische Verfahren in der Türkei noch nicht völlig ausgeschöpft sei.
Tatsächlich kann Öcalan nach türkischem Recht noch beim Generalstaatsanwalt eine Revision seines Todesurteils beantragen; dabei handelt es sich aber lediglich um einen formalen Schritt ohne Aussicht
auf Erfolg. Das ist auch Ecevit klar. Die Klausel bot der Regierungskoalition aber die Gelegenheit, die schmerzhafte Entscheidung noch ein letztes Mal aufschieben zu können. Damit ist nun aber bald
Schluss. Zwar dauert die Einspruchsfrist beim Staatsanwalt noch bis Weihnachten, doch für die türkische Regierung läuft die Zeit des Lavierens nächste Woche ab. Dann beginnt in Helsinki der EU-
Gipfel, von dem sich die Türkei die Anerkennung als Beitrittskandidat erhofft.
Die Zustimmung der Europäer steht aber ohnehin auf Messers Schneide. Die türkische Regierung ist zumindest noch eine Geste schuldig, um die Zweifler in der EU zu überzeugen. Sollte Ankara daher bis
zum Gipfel nicht der Bitte der Europa-Richter nachgekommen sein und die Aussetzung der Todesstrafe garantiert haben, könnte dies in Helsinki als Absage an Europa gewertet werden. Aus der Kandidatur
würde dann nichts. Die Mehrheit des türkischen Establishments und auch des Kabinetts plädiert deshalb dafür, auf die Hinrichtung zu verzichten.
"Es liegt im Interesse der Türkei, Öcalan am Leben zu lassen," argumentiert etwa Europaminister Mehmet Ali Irtemcelik. Dem kann aber die rechtsextreme Partei des Nationalen Aufbruchs (MHP),
zweitstärkste Partei in der Regierungskoalition, nicht zustimmen. Die MHP kam mit dem Wahlversprechen an die Macht, sich kompromisslos für die Hinrichtung des PKK-Chefs einzusetzen, und kann nun
nicht zurück · und schon gar nicht für die Europäer, denen die Nationalisten ohnehin skeptisch gegenüberstehen.
Das Tauziehen wird zwar vermutlich mit einem Rückzug der Rechtsextremisten enden. Bisher hatte die Regierung aber noch gehofft, diesen Zwist erst gar nicht öffentlich austragen zu müssen und die
Entscheidung über Leben oder Tod Öcalans auf ewig vertagen zu können. Schließlich muss die Akte vor der Abstimmung im Parlament noch Justizministerium, Ministerpräsidentenamt, Parlamentspräsidium und
zuletzt den Rechtsausschuss passieren, wo bereits Dutzende andere Todesurteile unvollstreckt verstauben.