Zum Hauptinhalt springen

Türkei macht nun Druck

Von Veronika Gasser

Europaarchiv

Die EU hat sich mit der Aussicht auf einen Beitritt der Türkei in eine prekäre Position manövriert. Denn während die Regierungschefs im Jahr 1999 beim EU-Gipfel in Helsinki den Türken große Hoffnungen gemacht haben, hält das Gros der europäischen Bevölkerung wenig davon. Die Kommission weiß um das Problem, hält aber die Beitrittsstrategie aus diplomatischen und sicherheitspolitischen Gründen für unumkehrbar. Nun macht die Türkei Druck, sie will bis Ende 2004 ein Datum für die Beitrittverhandlungen bekommen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 21 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

"Die Ambiguität der internationalen Diplomatie ist verheerend," kritisiert Petra Erler, Mitglied im Kabinett von Erweiterungskommissar Günther Verheugen. Denn manche Staatenvertreter würden sich gegen den Beitritt stark machen, aber hinter verschlossener Tür mit Ja stimmen. Mit dieser Haltung erwiesen sich die EU-Staaten jedenfalls keinen Dienst.

Sollte sich ein Staatschef für die Aufnahme der Türkei aussprechen und die eigene Bevölkerung respektive das nationale Parlament stimme gegen ihn, dann würde das eine Staatskrise auslösen. Deshalb fordert Erler von den Mitgliedern, dass mit gezielter PR die Gesellschaft jedes Landes auf Linie gebracht werden sollte. Denn ein Rückzieher sei aus diplomatischen Gründen nicht mehr möglich. "In der Diplomatie gilt: Jedes Versprechen muss gehalten werden." Erler erläutert mit diesem Satz die fatale Situation, in welche die Staatschefs die Union gebracht haben. Bevor es zu ernsthaften Gesprächen kommen kann, muss die EU-Kommission ihren Fortschrittsbericht über die Türkei vorlegen und eine Empfehlung abgeben. "Die Chancen stehen also 50 zu 50, dass 2005 Verhandlungen aufgenommen werden." Erler hält die Türkei heute noch nicht soweit, hegt aber die Hoffnung, dass der in Aussicht gestellte Beitritt die Regierung in Ankara zu weiteren Reformschritten animiert. "Und ich wehre mich dagegen, dass erfolgreiche Strategie durch endlose Diskussionen wieder zunichte gemacht wird." Denn für Erler ist der EU-Beitritt für die Türken ein Zuckerl, das sie zu Reformen und zur Übernahme des gemeinschaftlichen Wertekodex bewegen würde.

Auch sei der Türkei-Beitritt "für die Sicherheit Europas im 21. Jahrhundert eine Schlüsselfrage". Obendrein würde er die These Samuel Huntingtons wonach es zwischen Christen und Moslems unweigerlich zum Kampf der Religonen kommen werde, widerlegen.

Erler relativert jedoch. Denn zum gegenwärtigen Zeitpunkt könne die EU, wie sie heute verfasst ist, gar nicht über diese Frage abstimmen. Außerdem würde die Türkei das Budget der Gemeinschaft sprengen. Budgetkommissarin Michaela Schreyer, wie Verheugen eine Befürworterin der Türkei-Strategie, stellt für Ankara eine Erhöhung der Vortrittsbeihilfe von 250 auf 500 Mill. Euro in Aussicht. 2006 wird wieder neu verhandelt.

Doch nun macht die Türkei Druck. Außenminister Abdullah Gül hat gestern in türkischen Zeitungen betont, dass sich die EU bis Ende 2004 entscheiden muss, ob und wann sie Verhandlungen aufnehmen wird. Sollte es keine Gesprächsaussicht geben, werde die Regierung in Ankara ihre EU-Bestrebungen aufgeben.