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Türkei nach Urteil unter Zugzwang

Von Martyna Czarnowska

Europaarchiv

Die Türkei gerät erneut unter Druck - und sie wird ihm wohl nachgeben. Nach der Kritik des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte am Prozess gegen PKK-Führer Abdullah Öcalan erwartet die EU-Kommission eine Umsetzung des Urteils. Die Achtung vor Menschenrechten gilt als eine Bedingung für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara.


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Das Urteil war erwartet worden. Dennoch bringt es die Regierung in Ankara noch mehr in Bedrängnis. Gestern, Donnerstag, wertete der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Prozess gegen den kurdischen Rebellenführer Öcalan als rechtswidrig und empfahl der Türkei, das Verfahren neu aufzurollen. Das Land habe bei der Verhandlung 1999 gegen das Grundrecht auf einen fairen Prozess verstoßen, befand das Gericht. So sei Öcalan nicht unmittelbar nach seiner Festnahme einem Richter vorgeführt worden und habe vor seinem Verfahren keinen angemessenen anwaltlichen Beistand erhalten. Zudem sei das ausgesprochene Todesurteil eine "menschenunwürdige Behandlung" gewesen.

Mit diesen Feststellungen bestätigte der Gerichtshof in Straßburg eine Entscheidung in erster Instanz vom März 2004. Das Urteil ist verbindlich, Rechtsmittel sind nicht mehr möglich. Daher signalisierte Ankara bereits die Bereitschaft zu einem neuen Verfahren.

"Türkei ist Rechtsstaat"

Doch auch dabei würde Öcalan "genauso verurteilt werden, nichts würde sich ändern", kommentierte der zuständige Staatsanwalt Talat Salk gegenüber dem Sender CNN-Türk. Ähnlich äußerte sich der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. "Gleichgültig, ob das Dossier vor Gericht neu aufgerollt wird oder nicht, im Bewusstsein der (türkischen) Nation ist es abgeschlossen", erklärte der Premier. Die türkische Justiz werde aber über eine eventuelle Wiederaufnahme des Prozesses entscheiden. "Die Türkei ist ein Rechtsstaat", betonte Erdogan.

Doch mit einem neuerlichen Verfahren könnte die europa-skeptische Stimmung in der Türkei noch angeheizt werden. Ankara lasse sich zu viel von Brüssel sagen, meinen Kritiker. Zur Besonnenheit rief daher Justizminister Cemil Cicek auf. Er appellierte an die türkischen Bürger, sich keinem Zweifel hinzugeben, sondern "dem Staat, seinen Institutionen und allen voran der Justiz zu vertrauen".

Brüssels Bedingungen

Auf der anderen Seite muss sich Ankara dem Urteil des Straßburger Gerichtshofes beugen, will es sein Ziel erreichen, am 3. Oktober Beitrittsverhandlungen mit der EU aufzunehmen. Wiederholt hat die EU-Kommission die Türkei aufgefordert, Menschenrechte zu achten. Daher erwarte sie auch, dass Ankara die Entscheidung des Gerichts respektiert, erklärte ein Sprecher. Brüssel verfolge die Umsetzung von Urteilen des Menschenrechtsgerichtshofes sehr genau.

Öcalans Anwalt Mark Müller zeigte sich zuversichtlich: Alles deute auf eine Wiederaufnahme des Verfahrens hin. Dennoch wird damit gerechnet, dass der Kurdenführer abermals zu lebenslanger Haft verurteilt würde. Ein baldiger Prozessbeginn ist unwahrscheinlich.

Zur Person

In der Türkei gilt er als Staatsfeind. Ankara macht Abdullah Öcalan für den Tod von mehr als 35.000 Menschen verantwortlich, die seit 1984 beim Kampf der Kurdischen Arbeiterpartei PKK für einen kurdischen Staat umgekommen sind.

Als eines von sieben Kindern einer armen Bauernfamilie wurde der 1949 geborene Öcalan auf die Hochschule geschickt, schloss sein Studium der Politikwissenschaft aber nicht ab. Mit der PKK gründete er 1978 eine marxistisch-leninistisch orientierte Kaderpartei, die sich für mehr Rechte der Kurden in der Türkei einsetzte und langfristig die Errichtung eines sozialistischen Kurdenstaates anstrebte. Nachdem die politischen Bemühungen erfolglos geblieben waren, warb er für den seit 1984 offen geführten Kampf Tausende junger Männer und Frauen an.

Öcalan stellte sich selbst nicht an die vorderste Front des Kampfes. Er steuerte seine Guerilla-Aktionen vielmehr von Luxusvillen in Syrien aus. Als die Türkei 1998 ihre Truppen an der syrischen Grenze zusammenzog, musste Öcalan fliehen.

Er wurde im Februar 1999 vom türkischen Geheimdienst in Kenia gefasst, wo er in der griechischen Botschaft Zuflucht gefunden hatte. Ein türkisches Gericht verurteilte Öcalan 1999 zum Tode. Das Urteil wurde 2002 - nach Abschaffung der Todesstrafe in der Türkei - in lebenslange Haft umgewandelt. Seine Strafe sitzt Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali ab.