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In keinem anderen Mitgliedstaat wird eine mögliche Aufnahme der Türkei in die Europäische Union heftiger diskutiert als in Deutschland. Dort leben mittlerweile mehr als drei Millionen Türken. Die rot-grüne Koalition steht einem türkischen Beitritt offiziell positiv gegenüber, die Unionsparteien sind strikt dagegen und werden die Frage zum innenpolitischen und europapolitischen Wahlkampfthema machen.
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"Wir wollen zur Familie der Europäischen Union gehören", versicherte der charismatische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan vergangene Woche bei seinem Besuch in Berlin. Die Türkei habe sich bereits für die EU entschieden, verwies Erdogan auf Umfragewerte, wonach sich 75 Prozent der Bevölkerung für einen EU-Beitritt aussprächen. Und der türkische Premier dankte dem deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder für die Unterstützung bei den EU-Bestrebungen. Auf Grund der gemeinsamen wirtschaftlichen und politischen Interessen, so Erdogan, werde ein Beitritt der Türkei für die EU ein "großer Gewinn" sein und "keine Last".
Gewinn oder Last?
Genau umgekehrt sieht es der CDU-Außenpolitiker Friedbert Pflüger: Die EU sei "nicht in der Lage", die Türkei aufzunehmen. Zunächst solle die EU dem Land deshalb nur eine so genannte privilegierte Partnerschaft anbieten. Eine Vollmitgliedschaft der Türkei würde die Europäische Union in absehbarer Zeit überfordern, weil sie erst einmal ihre zehn neuen Mitglieder integrieren und die Probleme mit ihrer Verfassung lösen müsse, betonte Pflüger. Und die Frage dürfe auch im Wahlkampf nicht ausgeklammert werden - in Deutschland finden dieses Jahr 14 Regionalwahlen statt, zusätzlich wird am 13. Juni das Europa-Parlament gewählt.
Die CDU, aber auch die CSU geben zu bedenken, dass die Türkei in zehn Jahren das bevölkerungsreichste Land in der Gemeinschaft sei und im EU-Parlament die meisten Abgeordneten stellen würde. Unterhalb der Vollmitgliedschaft seien mehrere Regelungen vorstellbar.
Im Dezember dieses Jahres soll die EU-Kommission entscheiden, ob sie die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit Ankara empfiehlt. In Brüssel ist man in der Frage sehr gespalten, ist zu hören. Diese Woche reisen Kommissionspräsident Romano Prodi und Erweiterungskommissar Günter Verheugen zu Gesprächen in die Türkei.
Indes bemüht sich die türkische Regierung darum, positive Signale auszusenden. Zum einen hat Ankara angekündigt, die Todesstrafe nun auch in Kriegszeiten abzuschaffen. Das entsprechende Zusatzprotokoll 13 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sei bereits unterzeichnet worden.
EU-Standard versus . . .
Erst im November vergangenen Jahres hatte das Land die Todesstrafe in Friedenszeiten abgeschafft. Die EU-Kommission begrüßte die Entscheidung als weiteren bedeutenden Schritt des Landes auf seinem Weg zu einer vollwertigen Demokratie und zur vollständigen Achtung des europäischen Standards für Menschenrechte. Zum anderen drängt die Türkei augenscheinlich auf eine Lösung des Zypern-Problems. Sowohl die Regierung als auch die einflussreiche Armee sprachen sich dieser Tage für einen Neubeginn der seit fast einem Jahr unterbrochenen Zypern-Verhandlungen auf Grundlage des von UN-Generalsekretär Kofi Annan ausgearbeiteten Friedensplans aus. Der Machtkampf zwischen Befürwortern einer schnellen Annäherung der Türkei an Europa und den EU-Skeptikern in Ankara verhinderte aber eine weitergehende Einigung von Zivilisten und Militärs auf Eckpunkte der türkischen Position.
. . . nationale Interessen
Das Problem der Teilung von Zypern müsse bis zum 1. Mai (dem Tag der Erweiterung) gelöst werden, bekräftigte Erdogan bei seinem Berlin-Besuch. Brüssel hat deutlich gemacht, dass die Türkei nur dann mit baldigen Gesprächen über einen EU-Beitritt rechnen kann, wenn der Zypern-Konflikt gelöst wird. Erdogan ist deshalb zu Zugeständnissen bereit. Die pro-europäische Politik der Regierung wird jedoch von großen Teilen des Militärs und des Beamtenapparats als Bedrohung der nationalen türkischen Interessen empfunden.