Die türkische Außenpolitik ist derzeit nicht gerade vom Glück verfolgt. Das traditionell enge strategische Bündnis mit den USA ist durch die Weigerung Ankaras, als Aufmarschplatz für den Aufbau einer Nord-Front im Irak-Krieg zur Verfügung zu stehen, nachhaltig gefährdet. Und in Europa sorgte die Türkei mit ihrer sturen Haltung in der Zypern-Frage für Kopfschütteln. "Die Türkei sitzt zwischen allen Stühlen", analysiert dementsprechend Andrea K. Riemer, Expertin für Internationale Beziehungen, im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" die derzeitige außenpolitische Situation Ankaras.
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Vor allem das Verhältnis zu den USA könnte für Riemer aufgrund des türkischen Verhaltens im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg auf Dauer belastet sein. Im Vorfeld rechnete Washington fest damit, auf die Unterstützung der Türkei zum Aufbau einer Nord-Front zählen zu können. Das Nein des türkischen Parlaments machten diesen Plan jedoch zunichte. "Nun könnte die Türkei ihre Rolle als strategischer Partner der USA wenn nicht endgültig, so doch zumindest auf absehbare Zeit verlieren", vermutet Riemer. Anzeichen hierfür seien etwa der bereits von den USA begonnene massive Abzug von Truppen und Gerät aus dem türkischen Stützpunkt Incirlik und die Unterzeichnung von umfangreichen - und für die USA äußerst vorteilhaften - Abkommen über Truppenstationierungen mit der Ukraine und Georgien.
Die schwindende Bedeutung des eigenen strategischen Werts werde langsam auch in der Türkei selbst realisiert. Entsprechend habe man auch die Strategie gewechselt. Ankara präsentiere sich nicht mehr einzig und allein als aufgrund seiner geopolitischen Lage wertvoller Partner, sondern biete sich nun den USA als "Modell-Staat" für die Region an, der bisher als einziges islamisches Land über demokratische Strukturen verfüge. Allerdings ist Riemer skeptisch, was die Erfolgsaussichten dieses türkischen "Strategiewechsels" angeht: Zum einen reiche die Rolle als "Modell-Staat" nicht aus und zum anderen sei der Kemalismus "kein Gesellschaftsmodell für das 21. Jahrhundert".
EU: Langfristig mehr Schaden aus Zypern-Politik
Negativ auf das Verhältnis zur Europäischen Union wirke sich weniger die Irak-Politik der Türkei als vielmehr ihre kompromisslose Haltung in der Zypern-Frage aus. Während der Irak-Kurs Ankaras paradoxerweise auf der deutsch-französischen Linie lag, rechnet Riemer mit einem nachhaltigeren Dämpfer für die türkischen EU-Ambitionen aus dem "Njet" zum Zypern-Plan der UNO. Dieses Nein stieß in der EU auf umso größeres Unverständnis, als der UNO-Plan eine ausgewogene und vernünftige Kompromisslösung für die geteilte Insel vorgesehen habe. Zwar liege dieser Plan nach wie vor auf dem Tisch, wie jedoch eine Lösung bis Ende April 2004 erreicht werden soll, ist weitgehend unklar. Nicht zuletzt aufgrund der Schwäche der innertürkischen Opposition gegen den Führer der Zypern-Türken, Rauf Denktas, der federführend für das Scheitern des Kompromisses verantwortlich war.
Außenpolitik überschattet tiefe Wirtschaftskrise
Die gravierenden außenpolitischen Probleme drohen jedoch, so Riemer, den Blick der Regierung von Ministerpräsident Recep Erdogan auf die hartnäckige Wirtschaftskrise zu verstellen, unter der das Land seit Jahren leidet. Experten schätzen den akuten Finanzbedarf der Türkei auf 100 Mrd. US-Dollar. Vielleicht ist so auch die absurd hohe Summe von 92 Mrd. US-Dollar zu erklären, die die Türkei als Preis für die Truppen-Stationierung im Februar gefordert hatte. Nicht zuletzt darin sieht Riemer eine "völlig falsche Einschätzung des eigenen Werts" durch die Türkei.