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Türkische Lira verliert sechs Nullen

Von Susanne Güsten

Wirtschaft

Notenpressen und Münzprägemaschinen arbeiten in der Türkei derzeit rund um die Uhr - das Land braucht dringend neues Geld. Die Türken streichen zum 1. Jänner sechs Nullen aus ihrer Landeswährung, der Lira. 1 Euro wird dann nur noch knapp 2 Lira wert sein statt bisher 2 Mio. Lira.


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Die Umstellung ist ein Zeichen für das neue Selbstbewusstsein eines Landes, dessen Wirtschaft noch vor drei Jahren vor dem Abgrund stand, inzwischen aber Wachstumsraten aufweist, von denen andere nur träumen können. Die Währungsreform wird auch den vielen Türkei-Urlaubern das Leben erleichtern, die bisher bei jedem kleinen Einkauf mit Millionensummen jonglieren mussten.

Die Zeiten astronomisch hoher Inflationsraten sollen in der Türkei endgültig vorbei sein. Die Geldentwertung, die in den letzten Jahrzehnten zeitweise mehr als 100% im Jahr erreichte, liegt inzwischen unter 10%. Für westeuropäische Verhältnisse ist das immer noch sehr hoch, aber für eine ganze Generation von Türken ist es das erste Mal in ihrem Leben, dass sich die Preise nicht dauernd verdoppeln. Laut einer kürzlichen Umfrage unterstützen etwa 60% der Türken die Währungsumstellung. Die meisten hatten dafür praktische Gründe: Das Rechnen werde leichter ohne die vielen Nullen. Außerdem wird das neue Geld leichter zu transportieren und zu zählen sein. Bis zur Einführung automatischer Zählmaschinen vor einigen Jahren hatte jede türkische Bank einen speziellen Stab von Mitarbeitern, der nur dazu da war, die Unmengen an Papiergeld zu zählen.

Mit der Währungsreform kehrt auch der Kurus (sprich: Kurusch) zurück: Die Untereinheit der Lira war von der galoppierenden Inflation schon vor vielen Jahren vernichtet worden. Jetzt kommen die Kurus-Münzen wieder: 100 Kurus ergeben eine Neue Lira. Die staatliche Münzprägeanstalt in Istanbul stellt unter Hochdruck das neue Geld her. Bis Jahresbeginn sollen 1,2 Mrd. Münzen in Umlauf gebracht werden.

Um den Übergang von der alten auf die Neue Lira zu erleichtern, sollen beide Währungen ein Jahr lang gleichzeitig verwendet werden können. Die alte Lira wird sich aber möglicherweise schneller verabschieden als vorgesehen. Viele Geschäfte und Supermärkte zeichnen schon jetzt ihre Waren zusätzlich mit der Summe in Neuer Lira aus.

Wirtschaftswachstum wird heuer bei über 10% liegen

Dabei stand die Türkei noch vor drei Jahren kurz vor dem Staatsbankrott. Nach einer schweren Bankenkrise musste sich Ankara damals zu einem radikalen Reformprogramm verpflichten, um an Milliardenkredite des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu kommen. Seitdem geht es mit der Wirtschaft steil bergauf. Der Export und die Börse boomen, die Zinsen und die Inflationsraten fallen, die Arbeitslosigkeit geht langsam zurück. Das Wirtschaftswachstum wird in diesem Jahr bei über 10% liegen, für das kommende Jahr werden 5% angepeilt. Wenn die EU der Türkei im Dezember grünes Licht für Beitrittsgespräche gibt, wird zudem ein steiler Anstieg ausländischer Direktinvestitionen erwartet. Diese Entwicklung hat in der türkischen Regierung und in der Wirtschaft für viel Optimismus und Selbstvertrauen gesorgt - und die Neue Lira ist Ausdruck davon.

Trotzdem herrscht bei vielen Türken noch Verwirrung darüber, was das neue Geld eigentlich wert sein wird. Die Straßenumfrage eines türkischen Fernsehsenders, bei der Passanten einige Beträge in Neue Lira umrechnen sollten, ergab teilweise haarsträubende Resultate, weil die Menschen beim Abzug der vielen Nullen durcheinander kamen.

Die Erfahrungen mit der Euro-Einführung in der EU hat in der türkischen Öffentlichkeit zudem die Befürchtung ausgelöst, dass auch die Neue Lira zum "Teuro" werden könnte. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und andere Regierungspolitiker betonen immer wieder, es bestehe kein Anlass zur Sorge. Doch die Türken bleiben skeptisch. Als kürzlich die Istanbuler Fährbetriebe den Fahrpreis erhöhten und das mit der leichteren Umstellung auf die Neue Lira begründeten, kommentierte eine Zeitung, die Preistreiberei fange schon vor der Einführung der neuen Währung an.