Zum Hauptinhalt springen

Türkische Machtspiele

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

Premier Erdogan versucht seinen Einfluss an allen Fronten auszuweiten. Das Verfassungsgericht leistet erbitterten Widerstand.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Ankara. Geht es nach Recep Tayyip Erdogan, dann tobt in seinem Land gerade ein Machtkampf zwischen der Regierung und der Justiz. Der türkische Premier hält immer dienstags vor seiner Parlamentsfraktion eine Rede, die live übertragen wird und bei der es mitunter derb zur Sache geht. An den vergangenen Dienstagen wetterte Erdogan gegen finstere Mächte in der Justiz, die er nach seinem Sieg bei den Lokalwahlen Ende März zum inneren Feind erklärt hat. "So wie wir die Banden aus den Korridoren des Staates gejagt haben, werden wir diese Bande aus den Korridoren der Gerichte jagen", sagte der Premier.

Seit Anfang April hat diese dunkle Bedrohung ein neues Gesicht bekommen. "Wer Politik machen will, soll seine Robe ausziehen und sich unter dem Dach einer politischen Partei engagieren", sagte Erdogan. Er zielt damit auf Hasim Kilic, den Vorsitzenden des türkischen Verfassungsgerichtes, der mittlerweile in türkischen Medien als der eigentliche politische Gegenspieler Erdogans dargestellt wird.

Kilic hatte Anfang April die zwei Wochen andauernde Sperre des Internet-Kurznachrichtendienstes Twitter aufheben lassen und damit ein politisches Erdbeben in Ankara ausgelöst. In seiner detaillierten Begründung erklärte der oberste Richter des Landes, dass das von rund 13 Millionen Türken genutzte Medium wichtig für die Meinungsfreiheit geworden sei und daher in einer demokratischen Gesellschaft nicht blockiert werden dürfe.

"Pfeiler der Gewaltenteilung"

Die Telekommunikationsbehörde hatte Twitter gesperrt, nachdem Erdogan geschworen hatte, er werde den Kurznachrichtendienst wegen "falscher" Anschuldigungen "mit der Wurzel ausreißen". Twitter-Nutzer wiesen in den Wochen vor der Wahl ständig auf kompromittierende Tonmitschnitte im Internet hin, die angebliche Details jenes massiven Korruptionsskandals enthüllten, der das unmittelbare Umfeld des Ministerpräsidenten bedroht.

Der Beschluss des Verfassungsgerichtes musste daher für einen Mann, der Politik personalisiert wie Erdogan, als direkter Angriff auf seine Autorität wirken. Vor laufenden Fernsehkameras erklärte er: "Wir sind der Entscheidung nachgekommen, aber ich respektiere sie nicht." Er werde alles dafür tun, sie wieder zu kippen. Bei zahlreichen Gelegenheiten machte Erdogan in den vergangenen Wochen zudem deutlich, wo er seine Gegenspieler politisch verortet. Er vermute "Parallelmitglieder" innerhalb des Verfassungsgerichts - ein klarer Hinweis auf die Anhänger des Islampredigers Fethullah Gülen, die Erdogan wegen ihres mutmaßlichen Einflusses auf den Justiz- und Sicherheitsapparat als "Parallelstaat" bezeichnet.

Im Kern geht es bei dem Streit um die Frage, ob das Höchstgericht Regierungsbeschlüsse umwerfen und die Regierung sie dann wieder aufheben kann. "Verfassungsgerichtsbeschlüsse haben bindende Wirkung für alle - auch die Regierung", sagt dazu der Menschenrechtsanwalt und Kolumnist Orhan Kemal Cengiz.

Als Journalisten den Gerichtsvorsitzenden auf Erdogans Kritik ansprachen, lächelte Kilic und sagte, er verstehe "solche emotionalen Reaktionen". In der Sache blieb er eindeutig. Das Gericht treffe keine "nationalen Urteile": "Fundamentale Freiheiten sind universelle Werte." Kilic erklärte, das Gericht habe sich von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte leiten lassen, die die Meinungsfreiheit als Rückgrat der demokratischen Gesellschaft definierten. Der Jurist erinnerte Erdogan damit an Artikel 90 der türkischen Verfassung, wonach im Konfliktfall die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs über der türkischen Gesetzgebung stehen. Das Gericht habe lediglich die Vollmachten umgesetzt, die ihm 2010 in einem Referendum, mit dem die alte Militärverfassung reformiert wurde, zugesprochen worden seien. Damals hatte Erdogan selbst darin das Recht jedes Bürgers verankert, sich individuell an das Verfassungsgericht zu wenden. Auf drei solchen individuellen Anträgen beruht die jetzige Twitter-Entscheidung.

Die Volksabstimmung hatte weitere Folgen, die Erdogan nun ebenfalls nicht mehr gefallen. Auch der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK) wurde dabei reformiert. Seine 21 Mitglieder werden seither von den rund 120.00 türkischen Richtern und Staatsanwälten gewählt.

Damals pries Erdogan die Verfassungsreform als "Ausweg aus der Dunkelheit ins Licht". Mit einem im Februar beschlossenen Justizgesetz wurde der Hohe Rat allerdings wieder der ministeriellen Kontrolle unterstellt, offenbar, um unliebsame Mitglieder des Gremiums auszuschalten, die unerschrockenen Staatsanwälten Rückendeckung bei den Korruptionsermittlungen gaben. Doch das Verfassungsgericht stellte auch hier ein Stoppschild auf, erklärte das Gesetz für verfassungswidrig und läutete damit die nächste Runde des Machtkampfes ein.

Seither erscheint das Verfassungsgericht trotz seiner beschränkten Möglichkeiten als Leuchtturm demokratischer "Checks and Balances" in der Türkei. Kommentatoren nannten es die "letzte Bastion der freien Justiz", einen "Pfeiler der Gewaltenteilung". Hasim Kilic reagierte wie immer besonnen und entgegnete auf die Vorwürfe Erdogans, er und die anderen Richter hätten einfach nur ihren "Job gemacht".

Doch dieser dürfte in Zukunft nicht einfacher werden. In ihrem Versuch, das Oberste Gericht weiter zu beschneiden, plant die AKP bereits ein Gesetz, das sicherstellen soll, dass das Gremium eine Verfassungsbeschwerde erst dann akzeptieren kann, wenn der Rechtsweg komplett ausgeschöpft wurde. Würde die Regierung dann etwa Twitter erneut sperren, müssten Kläger erst alle Instanzen ausschöpfen, bis sie sich ans Höchstgericht wenden könnten - und das kann Jahre dauern. "Sie haben versucht, Twitter zu zerstören", urteilt Orhan Kemal Cengiz. "Und nun versuchen sie, das Verfassungsgericht zu zerstören."

Mehr Macht für Geheimdienste

Dass Erdogan nach seinem Wahlsieg derzeit massiv an der Konsolidierung seiner Macht arbeitet, lässt sich aber nicht nur am Konflikt mit dem Verfassungsgericht ablesen. Mit der am Donnerstag verabschiedeten Geheimdienstreform hat sich der Premier auch eine Schlüsselrolle bei künftigen Überwachungsmaßnahmen gesichert. Alle Aktivitäten der nationalen Sicherheitsagentur MIT werden künftig von seinem Büro aus abgesegnet. Dank des neuen Gesetzes kann der Geheimdienst nun ohne richterliche Genehmigung Telefone abhören und geheimdienstliche Erkenntnisse über "Terrorismus und internationale Verbrechen" sammeln. Zudem dürfen Daten über Bürger uneingeschränkt gesammelt, bei öffentlichen Ämtern, Wirtschaftsbetrieben und Vereinen abgefragt werden, ohne dass diese ein Recht hätten, sich zu verweigern.

Politisch steht Erdogan derzeit ohnehin ohne Gegner da. Vier Monate vor der Präsidentenwahl deutete Amtsinhaber Abdullah Gül, der zuletzt immer wieder als mäßigende Stimme in Erscheinung getreten war, einen Verzicht auf eine erneute Bewerbung an. Er habe unter den aktuellen Rahmenbedingungen keinen politischen Plan, sagte Gül am Freitag. Bereits am Mittwoch hatten die AKP-Abgeordneten für eine Kandidatur Erdogans gestimmt, der nach drei Amtszeiten nicht mehr als Premier antreten darf und die Türkei daher in ein Präsidialsystem umwandeln will.