Wenn man Recep Tayyip Erdogan glauben kann, ist alles schon geritzt. Die Türkei werde Soldaten in den Irak schicken, um die US-Besatzungsmacht im Nachbarland zu unterstützen. US-Militärs hatten die türkische Regierung und die Militärs Ende vergangener Woche um Beteiligung an einer Stabilisierungstruppe für den Irak gebeten. Der Irak-Einsatz werde 12.000 türkische Soldaten erfordern, mindestens drei Jahre lang dauern und sich auf die Mitte des Landes um Bagdad konzentrieren, meldete die türkische Zeitung "Milliyet" bereits am Dienstag. Nicht alle Politiker in Ankara sind glücklich über das Vorhaben.
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Selbst in Erdogans Regierungspartei AKP regt sich Widerstand. AKP-Parlamentsabgeordnete wie der Istanbuler Politiker Emin Sirin fragen sich, was die türkischen Soldaten im Irak tun und warum sie ausgerechnet den Amerikanern dort unter die Arme greifen sollen. Schließlich hätten die USA die Türken erst vor drei Wochen durch die Gefangennahme türkischer Soldaten im nordirakischen Suleimaniyah erniedrigt. Auch andere Kritiker melden sich zu Wort. Der Ex-General Korkmaz Tagma wirft den USA vor, sie wollten im Irak lediglich einen "Subunternehmer" haben - und dafür sollte sich die Türkei nicht hergeben.
Diese Unzufriedenheit innerhalb und außerhalb der eigenen Reihen gibt der Regierung zu denken. Sie möchte nicht noch einmal Schiffbruch erleiden wie im März, als die Stationierung amerikanischer Bodentruppen in der Türkei am Nein vieler AKP-Abgeordneter scheiterte. Eigentlich müsste auch der neue Irak-Einsatz vom Parlament legitimiert werden, doch in Ankara ist nicht sicher, ob es dafür eine Mehrheit geben würde. Deshalb sucht die Regierung nach einem Weg, die Soldaten auch ohne neuen Parlamentsbeschluss ins Nachbarland schicken zu können. So wird untersucht, ob eine noch bis Ende September gültige Parlamentserlaubnis zum Truppeneinsatz im Nordirak rechtlich so interpretiert werden kann, dass sie auch die neue Entsendung abdeckt.
Dass Erdogans Regierung den neuen Irak-Einsatz notfalls am Parlament vorbei realisieren will, zeigt die Bedeutung, die sie dem Vorhaben beimisst. Außenminister Abdullah Gül flog am Dienstag zu einem mehrtägigen Besuch nach Washington, um mit seinem US-Kollegen Colin Powell, Vizepräsident Dick Cheney und anderen führenden Mitgliedern der US-Regierung zu sprechen. Dabei werde es nicht nur um den geplanten Irak-Einsatz gehen, sagte Gül vor seiner Abreise. Auf der Tagesordnung steht auch eine grundsätzliche Neubestimmung der türkisch-amerikanischen Beziehungen: Angestrebt werde eine "gesündere Grundlage" für das Verhältnis zwischen Ankara und Washington, sagte Gül.
Diese Beziehungen haben turbulente Monate hinter sich: Zuerst die Brüskierung der USA durch das Nein der Türkei zur Truppenstationierung, dann die Krise nach der Gefangennahme der türkischen Soldaten. Im Nordirak sind die beiden NATO-Partner nach wie vor eher Gegner als Verbündete. Obwohl die Amerikaner gerne Tausende türkische Soldaten im Zentralirak sehen würden, ist ihnen die Anwesenheit türkischer Truppen im Norden des Landes nicht recht. Seit dem Vorfall in Suleimaniyah kamen beide Seiten allerdings überein, gemeinsam gegen die türkisch-kurdische Rebellengruppe PKK im Nordirak vorzugehen.
Eine mögliche Entschärfung der Lage im Nordirak ist nicht der einzige Grund für die türkische Regierung, wieder die Nähe der Amerikaner zu suchen. Erdogan und seine Minister glauben, dass die Türkei wegen der Schwierigkeiten der USA im Nachkriegs-Irak in einer stärkeren Position ist als in früheren Jahren. Der Einsatz mehrerer tausend türkischer Soldaten in einer Irak-Stabilisierungstruppe würde auch dem politischen Einfluss Ankaras auf künftige Entwicklungen im Irak zugute kommen, spekuliert die Regierung. Nun muss Erdogan nur noch die eigenen Leute davon überzeugen.