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Tuscon lauert überall - Handeln tut not

Von David Ignatius

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Der Autor war Chefredakteur der "International Herald Tribune". Seine Kolumne erscheint auch in der "Washington Post".

Der Umgang mit psychisch kranken Menschen gleicht einer Gratwanderung: Es gilt, die Gefahren, die von solchen Personen ausgehen, wahrzunehmen und die Rechte der Betroffenen zu achten.


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Wie sollen wir tatsächlich mit psychisch gestörten Menschen umgehen, die unter uns leben und möglicherweise gerade auf eine gewalttätige Auseinandersetzung zustolpern? Dutzende Leser fragten mich das nach meiner Kolumne über die Unfähigkeit, den offensichtlich labilen Attentäter von Tucson, Jared Lee Loughner, zu stoppen. Ihre E-Mails voll Angst und Schmerz sind eine Mahnung, dass weniger arge Varianten der Tragödie von Tucson jeden Tag passieren.

Psychisch Kranke versetzen ihre Umgebung in Furcht und Schrecken - und niemand weiß, was zu tun ist. Viele fürchten, dass die Gesetze weniger die Sicherheit der Gemeinschaft schützen als die Rechte einer labilen Person.

Was mir in den E-Mails erzählt wird, ist schrecklich. Ein Vater berichtet über seine psychisch kranke Tochter, dass keine Behörde bereit war zu handeln, solange kein Beweis vorlag, sie könne eine Gefahr darstellen. Also wartete man, bis sie einen Selbstmordversuch unternahm - zwei Mal.

Eine Mutter aus Ohio berichtet, wie sie vergeblich versuchte, einen Behandlungsplatz für ihren Sohn zu finden. Man sagte ihr, sie solle ihn zu Hause mit Medikamenten versorgen. Als er alt genug war, begann er herumzustreunen und weigerte sich, seine Medizin zu nehmen, was sein Recht ist. Mehrmals musste er dann in ein Krankenhaus eingeliefert werden, weil er doch eine Gefahr für sich und andere darstellte. Jedes Mal landete er wieder auf der Straße, weil die Versicherung die stationäre Behandlung nur für sechs Tage bezahlt. "Was psychische Erkrankungen betrifft, leben wir in mancher Hinsicht noch immer im Mittelalter", schreibt diese Frau.

Viele Leser geben der Angst, geklagt zu werden, die Schuld an unserer Passivität. "Niemand will mehr ein barmherziger Samariter sein. Das ist es einfach nicht wert in unserer prozesswütigen Welt", schrieb ein Mann.

Von diesen E-Mails angeregt, recherchierte ich ein wenig. Dabei bin ich auf durchaus Beruhigendes gestoßen: Experten sagen nämlich, dass es sehr wohl Wege gibt, sich um psychisch kranke Menschen zu kümmern, ohne ihre Rechte zu verletzen. Was man dafür benötigt, sind Interesse und Geld. Alle Ansätze haben gemeinsam, dass sie eine Verbindung zwischen der Gemeinschaft und isolierten und labilen Menschen herstellen. So haben Psychiater die Verpflichtung, die potenziellen Opfer zu warnen, wenn ein Patient Gewalt androht.

Nach dem Virginia-Tech-Massaker von 2007 haben viele Colleges psychologische Beratungen eingeführt. Und in allen Colleges in Virginia muss es nun Gefahrenbewertungsteams geben, die eingreifen, wenn Studenten sich unberechenbar verhalten. Hätte es am College in Tucson so etwas gegeben, wäre Loughner jetzt möglicherweise in Behandlung und seine Opfer würden noch leben.

Eine aktuelle Studie von John Monahan von der University of Virginia legt nahe, dass psychisch Kranke umso eher einer Behandlung zustimmen, wenn sie dadurch zu einer Unterkunft oder zu Geld kommen oder sich einen Gefängnisaufenthalt ersparen. Diese "Hebelwirkung", wie Monahan das nennt, helfe Gemeinden, sich konstruktiv mit ihren Obdachlosen auseinander zu setzen, statt sie orientierungslos herumwandern zu lassen, verwirrt und oft unter Drogen. Allein, dass sie eine Unterkunft bekommen, kann laut einer Untersuchung des New Yorker Psychologen Sam Tsemberis schon ihre Symptome verringern.

Übersetzung: Redaktion Der Autor war Chefredakteur der "International Herald Tribune". Seine Kolumne erscheint auch in der "Washington Post". Originalfassung