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Tyrannenkinder haben großes Potenzial

Von Alexandra Grass

Wissen

Ein Wandel in der Erziehung könnte aus den Rabauken von heute die ersten Vertreter des Homo sapiens socialis hervorbringen.


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Guten Willens und bestrebt, das Beste zu tun, haben sich die Erziehungsmodelle in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Das autoritäre Regime der Vergangenheit gehört schon lange dieser an. Heute karren Eltern ihre Kinder vom Englisch-Frühförderkurs zum Klavierunterricht, begegnen ihnen auf Augenhöhe, um beste Freunde zu sein, und lassen sie sich frei entfalten. Das klingt sehr ambitioniert, doch der Teufel liegt bekanntlich im Detail.

Denn wohin uns dieser Weg gebracht hat, wird uns täglich vor Augen geführt. Wir begegnen Kindern, die sich selbst in den Vordergrund stellen, die ihrem Tun und Lassen freien Lauf lassen und besonders argumentierfreudig sind. Selbstbewusst, kreativ und gestalterisch, könnte man dies positiv formulieren. Bei genauerem Hinsehen drängen sich eher Attribute wie narzisstisch, respektlos und vorlaut auf. Die Ärztin und Psychotherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger bringt es in ihrem neuen Buch "Der Tyrannenkinder Erziehungsplan - Warum wir für die Erziehung ein neues Menschenbild brauchen und warum die schwierigen Kinder das größte Potenzial haben" noch direkter auf den Punkt: "Wir leben in der besten aller Welten und dennoch ist die Kacke am Dampfen."

Der Aufwand, den Eltern heute betreiben, sollte ausgeglichene, wissenshungrige, neugierige Kinder hervorbringen, "die vor Brillanz und Potenzialentwicklung nur so strahlen wie frischpolierte Pokale". Stattdessen scheinen immer mehr Kinder auf der Strecke zu bleiben. "Statt der Erfüllung des Erziehungsauftrags ,fit for life‘ durch Autonomie und selbständige, eigenverantwortete Lebensgestaltung steigt die Zahl junger Menschen, die als prolongierte Nesthocker mit Frühpensionsphilosophie zu bezeichnen sind."

Ein neues Menschenbild

Leibovici-Mühlberger spickt ihren Leitfaden für einen Perspektivenwechsel in der Kindererziehung mit Geschichten aus dem Praxisalltag. Symbolisch für die dargestellte Entwicklung steht Markus, dessen formatfüllender Lebensweg sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht. Übergewichtig und essgestört, verhaltensauffällig, leistungsverweigernd und chillbewusst sind Attribute, die ihn auszeichnen. Von Tyrannenkindern ist ganz allgemein dabei die Rede.

Doch diese Tyrannenkinder können in Zukunft nicht mehr mit der Welt mithalten, ist die Autorin überzeugt. Deshalb: "Wer sein Kind für die Anforderungen der Zukunft vorbereiten will, muss in der Erziehung auf ein neues Menschenbild setzen."

In dem Leitfaden, der nach einer faszinierenden Schilderung der Sachlage den zweiten Teil des Buches füllt, skizziert sie, wie dieses neue Menschenbild namens Homo sapiens socialis aussieht und welcher Weg dorthin führt. Dabei bleibt sie nicht bei leeren Worthülsen, sondern bietet Ratschläge mit Hand und Fuß. Autorität statt autoritär - gleichwertig statt gleichgestellt, sollten als Ziele gelten. Zudem gibt sie zu bedenken: Mit ihrem Schreien und Lautsein würden Tyrannenkinder zu Aufdeckern und Anklägern der neuen Systemmechanik von Erziehung. Jene, denen es gelingt, den Weg zu ändern, "bestechen durch besonderes Bewusstsein und Engagement zu Fragen von Ökologie, Humanismus und Werten". Vielleicht sind also gerade die Tyrannenkinder "dafür prädestiniert, die ersten Vertreter des Homo sapiens socialis zu werden, die Speerspitze des Quantensprungs".

sachbuch

Der Tyrannenkinder

Erziehungsplan

Martina Leibovici-Mühlberger

edition a, 336 Seiten, 24,90 Euro