Liz Truss musste zur Amtsübergabe nach Schottland reisen. Als Premierministerin umgibt sie sich mit Vertrauten.
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Normalerweise wird, wer gerade regiert in London, Anfang September zur Queen nach Balmoral eingeladen. In ihrem Schlösschen droben in Schottland, in dem sie lange Sommerurlaube verbringt, empfängt Königin Elizabeth II. immer für ein paar Tage den jeweiligen Premierminister oder die Premierministerin.
Von diesen privilegierten Besuchen haben die Regierungschefs über die Jahrzehnte viel zu erzählen gewusst. Einige, wie der frühere Tory-Premier David Cameron, haben diesen Aufenthalt im Kreise der Royals ausgesprochen genossen. Andere, wie Labours Tony Blair, fanden solche Ferientrips und die steife Routine im Schloss eher "surreal" und gestanden, dass sie nur mit überdurchschnittlichem Alkoholkonsum über die Runden gekommen seien. Der "Eisernen Lady" Margaret Thatcher war es schlichtweg peinlich, dass Ihre Majestät sie beim traditionellen Grill-Ausflug von Balmoral persönlich bewirtete und anschließend darauf bestand, das Geschirr eigenhändig abzuwaschen.
Eine solche Behandlung wurde den Gästen aus London am Dienstag allerdings nicht zuteil. Gerade mal ein halbes Stündchen, kurz vor dem Mittagessen der Queen, wurde Premierminister Boris Johnson eingeräumt, um in aller Form sein Rücktrittsgesuch einzureichen und sich von der Queen zu verabschieden. Gleich nach seinem Abgang traf, ebenfalls für dreißig Minuten, seine designierte Nachfolgerin Liz Truss zur offiziellen Ernennung als Regierungschefin und zu einem entsprechenden Händeschütteln mit der Monarchin ein.
Mit einer Zeremonie, die noch immer "kissing of hands" heißt, heute aber etwas weniger untertänig gehandhabt wird, war die Amtsübergabe besiegelt. Dass sie in Balmoral stattfand und nicht wie üblich im Buckingham-Palast in London, hing mit dem Gesundheitszustand des 96-jährigen Staatsoberhaupts zusammen. Da die Queen zunehmend "Mobilitätsprobleme" hat und man sich bei Hofe von Tag zu Tag mehr um ihre Kräfte sorgt, hatte man ihr diese Erfüllung ihrer verfassungsgemäßen Aufgabe zu erleichtern gesucht - und die beiden einander ablösenden Tory-Politiker um einen kleinen Umweg gebeten, bei der Amtsübergabe in No 10 Downing Street.
Für Boris Johnson war jedenfalls die eigene Verstoßung aus der Regierungszentrale in London (noch einmal) das wichtigste Thema des Tages. Bereits am frühen Morgen, um halb acht, hatte er bei seiner Farewell-Ansprache am Pult vor der berühmten schwarzen Tür in Whitehall aller Welt erneut sein Leid geklagt. "Unerwarteterweise" sei er ja zu einer "Stabübergabe" mitten in seiner triumphalen Amtszeit gezwungen worden, nachdem seine Partei "auf halber Strecke die Regeln geändert" habe, erklärte er: "Aber lassen wir das auf nun sich beruhen." Auf jeden Fall habe er seiner Nation fantastische Dienste erwiesen, tönte Johnson.
Laudatio in eigener Sache
Den Brexit habe er vollzogen, Covid besiegt, den Rest der Welt durch rekordfrühe Impfungen beschämt und Wladimir Putin entschlossener als andere die Stirn geboten, meinte er. Eine ganze Liste von Erfolgen, die er sich zuschrieb, ratterte der aus dem Amt Getriebene bei dieser letzten Gelegenheit noch einmal herunter - von der Reform der Sozialfürsorge bis zum Ausbau des Bahn- und Straßennetzes, vom Breitband-Rollout bis zur Stärkung der Sicherheitskräfte und zur radikalen Reduktion der Arbeitslosigkeit im Land. Ungläubig verfolgten Beobachter, wie Johnson auf seine unbekümmerte Art noch einmal alle möglichen PR-Blüten seiner Amtszeit zu einem Strauß schamloser Selbstgratulation wand und auch lang diskreditierte Behauptungen (wie den Bau von 40 neuen Krankenhäusern) ungerührt wieder für sich in Anspruch nahm.
"Mach mir das erst mal nach", schien er Liz Truss sagen zu wollen, der neuen Premierministerin. Die er nun natürlich nach Kräften und "auf Schritt und Tritt" unterstützen will. Er selbst, fügte Johnson in bester Boris-Manier an, werde jetzt wie dereinst der römische Staatsmann Cincinnatus "zu meinem Pflug zurückkehren", also andere Gefilde beackern als die der Regierungspolitik.
Kenner der klassischen Geschichte wiesen nach dieser Bemerkung aber rasch darauf hin, dass Cincinnatus einst an die Macht zurückgekehrt war, als er zur Niederwerfung eines Plebejer-Aufstands von den Seinen als Retter (und Diktator) aus dem Ruhestand zurückgerufen wurde. So ganz habe Boris Johnson die Hoffnung auf eine "Zugabe" in No 10 keineswegs aufgegeben, war gestern in London allgemeine Einschätzung.
Nicht schnell genug konnte es unterdessen Liz Truss mit der Rückkehr aus Balmoral nach London gehen, nachdem die Queen sie um halb eins am Dienstag mit der Regierungsbildung beauftragt hatte - und sie so die Nummer 15 wurde in jener langen Reihe der Premierminister und Premierministerinnen Elizabeths II., die einmal mit Winston Churchill begann.
So drängend sind tatsächlich die Probleme, derer sich Truss noch in diesem Spätsommer annehmen muss, dass ihr wenig Zeit zu Unterhaltungen mit der Königin oder zum Feiern ihres Einzugs in Downing Street blieb. Die haushohe Inflation, der gewaltige Anstieg der Strom- und Gaspreise, die sich ankündigende Rezession und der drohende Bankrott vieler britischer Kleinbetriebe lassen ihr auch nach Ansicht ihrer eigenen Experten nur eine knappe Frist für die lang geforderten Maßnahmen, deren Erfolg oder Misserfolg ihre Zeit bis zu den nächsten Unterhauswahlen in zwei Jahren entscheidend prägen wird.
Plan gegen die Energiekrise
Grau verhängt war denn auch der Himmel, als Liz Truss, nun im Amt, am späten Nachmittag wieder in der Downing Street eintraf. Vom glorreichen Sonnenschein, in den Boris Johnson am Morgen entschwunden war, war nichts mehr zu sehen. Allen plötzlichen kalten Schauern, allen Warnungen vor drohenden Stürmen zum Trotz aber nahm Truss vor ihrer neuen Adresse Aufstellung und weigerte sich, ihre kurze Antrittsrede ins Gebäude hinein zu verlegen. "So lang der Sturm auch anhalten wird", erklärte sie, "weiß ich doch, dass die britische Bevölkerung stärker ist." Den "widrigen Winden" aus aller Welt werde Großbritannien widerstehen.
Drei Dinge benannte die neue Premierministerin in dieser ersten Ansprache als ihre Prioritäten. Zum einen wolle sie ihren Mitbürgern bei der Bewältigung der aktuellen Energiekrise helfen, sagte sie. Ein Plan dazu – dessen Details sie allerdings nicht verraten wollte – soll im Lauf der Woche noch vorgelegt werden. Gedacht ist an eine zusätzliche vorübergehende Schuldenaufnahme des Staats um 100 Milliarden Pfund.
Sodann soll das Gesundheitswesen saniert werden, "um sicher zu stellen, dass die Leute ihre Arzttermine bekommen". Vor allem aber will Truss das britische Wirtschafts- und Finanzsystem von Grund auf "reformieren". Wie versprochen, sollen unverzüglich Steuern abgebaut und soll "harte Arbeit belohnt" werden, "damit Britannien wieder funktionieren kann".
Minister ernannt
Ein Kabinett loyaler Gefolgsleute soll ihr helfen, diesen Plan in aller Eile umzusetzen. Der bisherige Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng wird das Schlüsselministerium für Finanzen übernehmen, also Truss´ Schatzkanzler sein. Neue Innenministerin wird die stramm rechte Generalstaatsanwältin Suella Braverman, Außenminister der bisherige Bildungsminister James Cleverly. Die bisherige Arbeitsministerin Therese Coffey, die als engste Verbündete von Truss gilt, übernimmt das Gesundheitsministerium und wird zugleich Vizeregierungschefin.
Politische Kommentatoren wiesen darauf hin, dass damit erstmals kein weißer Mann in einem der "vier großen Staatsämter" dient. Allerdings wurde deutlich, dass Truss entgegen Forderungen aus der Partei kein Kabinett der Einheit schmiedet. Vielmehr entließ sie die wichtigsten Unterstützer von Rishi Sunak, ihrem Widersacher im parteiinternen Wahlkampf. Nur wenige Mitglieder des bisherigen Kabinetts blieben in ihren Ämtern. Aus eigenen Stücken waren zuvor Innenministerin Priti Patel und Kulturministerin Nadine Dorries zurückgetreten.