Zum Hauptinhalt springen

Über die Schwierigkeit, Armut zu erfassen

Von Simon Rosner

Politik

Im Vorjahr waren in Österreich 18,1 Prozent armutsgefährdet. Das ist aber nur eine Annäherung an die Wahrheit.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 6 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wien. Jede sechste Person in Österreich ist armuts- oder ausgrenzungsgefährdet. Das sind 1,563 Millionen Menschen. Im Vergleich zu den vergangenen Jahren ist hier kaum Bewegung festzustellen, weder zum Guten noch zum Schlechten, innerhalb der EU steht Österreich insgesamt gut da. Am besten schneidet aber Tschechien ab. So steht es die Statistiken. Tschechien? Wirklich?

Wer das Nachbarland, vor allem den Osten Tschechiens kennt, wird hier zweifeln. Zurecht. Und allein dieses Beispiel zeigt, wie schwierig es ist, Armut und Armutsgefährdung zu vermessen, ja überhaupt eine geeignete Definition zu finden. Was ist arm? Ist jemand, der nur 400 Euro im Monat verdient und sich deshalb keine eigene Mietwohnung leisten kann, arm? Vermutlich schon. Aber wenn dieser jemand ein Student ist, der in einer WG wohnt und bei Bedarf von Eltern und Oma versorgt wird? Eher nicht.

Um auf die Frage nach der Armutsentwicklung eine möglichst gute Antwort zu erhalten, erheben die statistischen Behörden in Europa, darunter auch die Statistik Austria in Österreich, verschiedene Daten und werten diese nach mehreren Aspekten aus: nach materieller Deprivation, Erwerbsbeteiligung sowie Armutsgefährdung, die vom Haushaltseinkommen abhängt.

Wer weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens hat, gilt demnach als armutsgefährdet. Für einen Singlehaushalt sind das derzeit 1238 Euro netto, bei zwei Personen mit einem Kind 2228 Euro. In Tschechien, und hierin liegt die Erklärung der überraschenden Top-Platzierung, liegt diese Grenze für Singles bei unter 400 Euro, das dortige Medianeinkommen ist sehr niedrig, dafür sind die Einkommen gleich verteilt.

"Ich würde den Begriff Einkommensarmut verwenden", sagt Sozialexperte Martin Schenk von der Armutskonferenz. "Diese Menschen haben im Verhältnis zur Mitte einen Mangel an Einkommen." Irrelevant sind diese Zahlen nicht, wie auch Konrad Pesendorfer, Generaldirektor der Statistik Austria, sagt. "Es geht ja auch um Teilhabe an der Gesellschaft."

Schwierige Vergleichbarkeit

Pesendorfer weist selbst explizit daraufhin, dass man sich mithilfe von mehreren Daten der Wahrheit annähern muss. Wichtig sind diese Zahlen auch deshalb, damit die Politik evidenzbasiert eines der ganz großen, alten gesellschaftlichen Probleme bekämpfen kann. So hatte es sich auch die EU vor acht Jahren zum Ziel gesetzt, als sie ausgab, bis zum Jahr 2020 das Armutsrisiko in den Mitgliedsstaaten um 25 Prozent zu senken. Österreich ist hier - rein statistisch gesehen - auf einem guten Weg, die EU weniger. Die Zahl der Armen ist gestiegen.

"Ein gutes Maß für Armut ist die manifeste Armut", sagt Schenk. Diese liegt dann vor, wenn Personen von zwei oder gar drei Indikatoren betroffen sind, also etwa ein geringes Einkommen haben und gleichzeitig nicht in der Lage sind, sich gewisse Güter und Ausgaben leisten zu können: ein Auto, einen Fernseher, eine unerwartete Reparatur, Heizen. Von dieser manifesten Armut sind in Österreich fünf Prozent betroffen, in Tschechien sind es weit mehr. Allerdings ist auch hier der EU-Vergleich schwierig zu ziehen. Die Heizkosten sind zwischen Norden und Süden Europas unterschiedlich, ebenso die Konsequenz im Fall der Fälle.

Für die Politik relevant ist das Armutsrisiko von bestimmten Personengruppen, die bei dieser Untersuchung (6000 Haushalte netto) auch abgefragt werden. Am höchsten ist es für Personen aus Drittstaaten (nicht EU) sowie generell für Ein-Eltern-Haushalte und alleinstehende Frauen und Männer ohne Pensionsbezug sowie für Mehr-Kind-Familien. Nur wenn die Politik diese Risikogruppen kennt, kann sie auch versuchen, mit Maßnahmen dieses Risiko zu verringern.

Obdachlose gar nicht erfasst

Es gibt aber einige Gruppen, die gar nicht in dieser Befragung erfasst werden: Obdachlose, ausländische Bettler, Asylwerber, Illegale, aber auch Studenten, die in Heimen wohnen. In der (kommunal-)politischen Debatte sind einige dieser Gruppen überrepräsentiert. Diese Form der Armut ist auch sichtbar. Das Ergebnis ist dann ein Bettelverbot oder, wie jüngst in Wien, ein Alkoholverbot rund um den Praterstern.

In Wien ist die Zahl der Wohnungs- und Obdachlosen sowie der Bettler über die Jahre gestiegen. Das ist wahrnehmbar, geht aber unter anderem auch aus der Nutzung von Notschlafstellen hervor. Systematisch erfasst werden Obdachlose aber nicht.

Mit diversen sozialen Sicherungssystemen versucht man in Österreich seit mehr als 100 Jahren, einen möglichen Absturz in die Obdachlosigkeit sehr frühzeitig zu verhindern. Zugezogene Menschen, auch aus der EU, haben jedoch nur eingeschränkte Rechte. Damit wollte und will man Migration ins Sozialsystem verhindern. Das heißt allerdings auch, dass diese Präventionsmaßnahmen bei ihnen weit weniger greifen. "Ein schwer lösbares Problem", sagt auch Schenk. In Statistiken schlagen diese Menschen aber eben oft gar nicht auf.