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Politikwissenschafterin Barbara Prainsack erklärt, warum sie und viele andere eine Impfpflicht für wenig sinnvoll halten. Damit die Maßnahme effektiv wird, schlägt sie eine vorgelagerte Beratungspflicht vor.
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"Wiener Zeitung": Am Beginn des Impfprogramms hat nicht nur die Politik eine Pflicht abgelehnt, auch die meisten Expertinnen und Experten meinten, eine Impfpflicht sei nicht zielführend. Warum?
Barbara Prainsack: Die überwiegende Meinung war, dass sie ein überschießendes Mittel sei, dass eine allgemeine Impfpflicht überhaupt nur dann akzeptabel sei, wenn bewiesen sei, dass die Impfung nicht nur für die Menschen individuell einen überwiegenden Nutzen habe, sondern sie auch das Risiko, das Virus weiterzugeben, erheblich reduziere. Und es müssten vorher alle übrigen Mittel ausgeschöpft werden.
Eine sterilisierende Immunität gibt es nicht, dennoch ist offensichtlich eine höhere Impfrate notwendig, um ohne Überlastung des Gesundheitssystems durch den Winter zu kommen. Braucht es daher eine andere Bewertung dieser Sicht?
Es haben sich zwei wesentliche Aspekte verändert. Es ist mittlerweile die am besten erforschte Impfung weltweit. Bei Personen, die keine medizinische Kontraindikation zur Impfung haben, überwiegt das Risiko der Covid-Infektion jenes der Impfung. Und wir haben mit freiwilligen Mitteln eine ausreichend hohe Impfrate nicht erreicht. Deshalb schließen jetzt viele daraus, dass wir eine Impfpflicht für alle benötigen. Das kann ich auch nachvollziehen, aber ich teile das nicht.
Warum nicht?
Wenn man eine hohe Impfrate erreichen möchte, dann ist eine generelle Impfpflicht nicht unbedingt das Politikinstrument der Wahl. Kein Politikinstrument ist zu 100 Prozent effektiv, und alle Instrumente haben auch unerwünschte Konsequenzen. Eine davon ist eine Reaktanz, dass also zögerliche Personen von der Impfung abgeschreckt werden. Überzeugte Impfgegner erreicht man mit einer Impfpflicht nicht, außer man gestaltet sie extrem hart, fast ohne Ausnahmen, mit hohen Strafen und einer engmaschigen Durchsetzung. Aber dann ist dieses Instrument eben sehr invasiv. Wenn man es aber nicht so streng ausgestaltet, erhält man Effektivitätsverluste, da man mit der Impfpflicht auch Menschen abhält. Wir sehen vielerorts bereits einen Rückgang der Zahl der Erstimpfungen, das könnte bereits ein Symptom dieser Reaktanz sein.
War die Festlegung ein Fehler?
Ich bin nicht davon überzeugt, dass es ein effektives Mittel ist. Konstruktive Mitarbeit besteht aber für mich nicht darin, nur auf mögliche Fehler in der Vergangenheit hinzuweisen. Deshalb habe ich mit Thomas Czypionka (Gesundheitsökonom am IHS, Anm.) Vorschläge entwickelt. Einer davon ist, einer Impfpflicht eine Beratungspflicht vorzuschalten. Dass also alle Ungeimpften zu einer Beratung, abseits ihrer Hausärzte, kommen müssen, idealerweise in einem impfnahen Bereich. Erst nach einer gewissen Zeitspanne muss danach die Impfung nachgewiesen werden. Viele haben noch offene Fragen und keine fachkundige Beratung erhalten. Außerdem müsste im Gesetz verankert sein, dass man für den Gang zur Impfung von der Arbeit freigestellt ist. Und man sollte den Impfstoff frei wählen dürfen. Im Gegenzug, das ist ein weiterer Vorschlag, sollten die medizinischen Ausnahmen chefarztpflichtig sein. Sonst droht der Worst Case, dass wir zwar offiziell eine Pflicht haben, die aber so durchlöchert ist, dass wir die negativen Effekte der Reaktanz erhalten, gleichzeitig aber auch eine geringe Effektivität.
Wie viel Rückhalt hat die Impfpflicht in der Bevölkerung? Und wie hat sich verändert?
Die Zustimmung ist gestiegen. In den Oktober-Daten des Austrian Corona Panels stimmten 40 Prozent einer allgemeinen Impfpflicht zu. Diese Zustimmung war zuvor viel niedriger, im März etwa die Hälfte. Warum es sich verändert hat, können wir aus einer qualitativen Studie sagen. Es hat sich die Meinung bei jenen Menschen verändert, die selbst eine hohe Gefahrenwahrnehmung haben und bei jenen, die zunehmend frustriert sind, weil, und ich zitiere hier, "alle in Geiselhaft genommen werden, weil sich einige nicht impfen lassen".
Da die große vierte Welle erst im November so richtig bedrohlich rollte und erneut zu einem Lockdown führte: Steigt die Zustimmungsrate nun weiter?
Das ist plausibel, erste Daten deuten auch daraufhin. Mehr werden wir erst wissen, wenn wir die neuen Daten kennen, wir fragen das noch ab. Ich vermute, dass sich die impfskeptischen Gruppen noch stärker in Richtung absolutes Nein bewegen, umgekehrt aber auch die Gruppe der Befürworter einer Impfpflicht wächst, es also zu einer beidseitigen Verhärtung der Positionen gekommen ist.
Die Motive der Nicht-Impfung sind unterschiedlich, von Angst bis Protesthaltung. Kann man dies irgendwie quantifizieren?
Man kann es zwar kategorisieren, aber nicht seriös beziffern. Es sind aber nicht nur prinzipielle Impfgegner noch nicht geimpft. Manche haben Angst vor der Impfung und glauben, dass diese gefährlicher als eine Infektion ist. In unseren Interviews hören wir außerdem, dass sich Menschen auch aus Ärger über die Regierung nicht impfen lassen. Häufig kommen auch Gerechtigkeits-Argumente, dass sich etwa Menschen impfen lassen würden, wenn sich die Regierung auch um ihre Interessen kümmern würde. Die Gruppe kann noch erreicht werden, schwierig ist aber, dass die Interessen sehr unterschiedlich sind.
Welche Gruppe ist größer, jene, die man noch erreichen könnte, oder die absoluten Impfgegner?
Die erste Gruppe ist größer, ohne es genau in Prozent angeben zu können. Es gibt auch eine Gruppe, auch wenn die relativ klein ist, die sich aus Gruppendruck nicht impfen lassen will. Und es gibt eine Gruppe von gut gebildeten Personen mit hohem Einkommen, für die es eine Art Beleidigung darstellt, dass man ihnen etwas anschaffen will.
Bisher gab es eine 3G-, dann eine 2G-Regel, also den De-facto-Ausschluss ungeimpfter, nicht genesener Personen aus weiten Teilen des öffentlichen Lebens. War dies nicht bereits eine Art Impfpflicht?
Es mag vielleicht als Haarspalterei erscheinen, aber man sollte den Begriff Impfpflicht nur dann verwenden, wenn es die Möglichkeit gibt, jemandem eine Impfung anzuweisen. Sonst verwässern wir den Begriff. Es macht einen Unterschied, ob Strafen drohen oder man nicht ins Café gehen kann.
Der Hintergrund der Frage ist, ob es nicht auch als unehrlich wahrgenommen wurde, als die Politik eine Impfpflicht ablehnte, aber Ungeimpften das öffentliche Leben massiv erschwerte.
Das mag so empfunden worden sein, aber der Gesetzgeber muss sich daran orientieren, was grundrechtskonform ist und nicht, was von manchen vielleicht als unehrlich empfunden wird. Ein Zutrittsverbot für Ungeimpfte ist weniger invasiv als die Anweisung einer Impfung. Das ist eindeutig.
Welche möglichen negativen Auswirkungen, und zwar demokratiepolitisch, sind zu bedenken? Wir sehen viele Demonstrationen, und es scheint ein Radikalisierungspotenzial zu geben?
Wenn wir mit der gewaltbereiten Impfradikalisierung argumentieren, haben wir einen sehr problematischen Präzedenzfall geschaffen, denn dann anerkennen wir die Gewaltbereitschaft als demokratisch legitime Maßnahme. Der Verfassungsjurist Christoph Möllers hat in der "Zeit" davon gesprochen, dass so ein Argument eine Prämie für Radikalisierung darstelle und Menschen belohnt werden, wenn sie sich besonders aggressiv dagegen zu Wehr setzen, was mehrheitlich als richtig anerkannt wird. Das finde ich gut auf den Punkt gebracht.
Dann gehe ich einen Schritt weg von der Radikalisierung. Die Politik hat jedoch stets eine Impfpflicht bei Covid kategorisch ausgeschlossen. Nun bricht sie dieses Versprechen. Kann das nicht ein weiterer Baustein sein, dass die Politik Menschen verliert?
Natürlich. Das hätte niemals versprochen werden sollen, weil man in einer Pandemie nie weiß, wie sich die Dinge entwickeln. Aber ist vielleicht auch passiert, weil man vor Monaten dachte, dass eine Impfpflicht so extrem sei, dass sie nie kommen wird.
Wie sieht das mittlerweile die wissenschaftliche Community, die ja zu Beginn mit breiter Mehrheit eine allgemeine Pflicht abgelehnt hat?
Manche haben ihre Meinung geändert. Aber ich würde schon sagen, dass viele Forscherinnen und Forscher, die sich auf medizinischer und sozialwissenschaftlicher Seite mit diesem Thema beschäftigen, nach wie vor das Politikinstrument einer generellen Impfpflicht für nicht ideal halten. Aber die Politik hat so entschieden, daher gilt es, dabei zu helfen, die Impfpflicht so auszugestalten, dass sie möglichst effektiv und so wenig invasiv wie möglich ist.