Was die ÖVP zusammenhält: ein Gespräch mit Wissenschaftsminister Harald Mahrer.
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Am 17. April 1945, da kämpften in Wien noch die letzten Nazis gegen die heranmarschierende Rote Armee, trafen sich sechs Männer im Schottenstift und begründeten die einstigen Christlichsozialen als ÖVP neu. Deren Wurzeln liegen im späten 19. Jahrhundert. Das ist deshalb nicht ganz unwichtig, weil jüngere Mitbürger glauben könnten, es gebe da jetzt eine neue Partei mit dem gleichen Namen, nur eben in Türkis statt Schwarz.
Aber was ist der Kern, was ist die Grundidee dieser Partei, die von Sebastian Kurz gerade einem Veränderungsprozess unterzogen wird, dessen Ausgang sich erst am 15. Oktober entscheidet? Die ÖVP will ein "Sammelbecken für alle sein, die glauben, dass sie mit eigenen Händen und Ideen einen Beitrag leisten können, Österreich zu gestalten", fasst Wirtschafts- und Wissenschaftsminister Harald Mahrer das Selbstverständnis der alten wie der neuen ÖVP zusammen. Die Wertebasis dabei seien Freiheit, Selbstverantwortung, Eigentum und Leistung. Mahrer nennt das, was aktuell in der Volkspartei vor sich geht, eine "Transformation zu einer starken Partei der politischen Mitte".
Doch was bedeutet der luftige Begriff der "Mitte", der auch schon bessere Zeiten gesehen hat. Für den Wissenschaftsminister eine gute Gelegenheit, Aristoteles ins Spiel zu bringen. Schon der Philosoph sei nämlich der Ansicht gewesen, dass es nur eine Chance auf eine prosperierende Zukunft gebe, wenn ein Staat über eine breite politische Mitte verfüge. Für Mahrer kommt hinzu, dass die Kräfte, die diese Mitte tragen, auch die seien, die für Innovation und Kreativität in einer Gesellschaft sorgen und damit nachhaltigen Wohlstand schaffen.
Die Frage allerdings ist, wie es der Politik heute gelingt, eine breite Mitte zu schaffen. Für Mahrer klappt das nur mithilfe von widerstreitenden Grundsätzen, die es zu verbinden gelte: Es brauche die Freiheit des Einzelnen von staatlichem Zwang, genauso wie ein umfassendes Verständnis von Verantwortung. Und zu Freiheit, so Mahrer, brauche es Eigentum, weil nur dieses unabhängig mache. Hinter dieser Idee stehe eine Form von Verantwortung, die etwas aufbauen wolle, sei es ein Unternehmen oder Besitz, um diesen an die nächste Generation weiterzugeben. Für den erklärten Liberalen liegt hier der tiefere Grund, weshalb die ÖVP eine Erbschaftssteuer ablehnt.
Dabei gesteht auch der ÖVP-Politiker zu, dass die Mitte politisch wie ökonomisch unter Druck geraten sei und die Ränder die Debatten zunehmend bestimmten. Den Erneuerungsprozess der ÖVP sieht er als Antwort darauf, denn ohne "würden die Ränder das Ruder übernehmen". In vielen Bereichen sei nämlich das System außer Balance geraten - Stichwort Globalisierung und Digitalisierung -, jetzt gelte es, dieses Gleichgewicht wieder herzustellen. Mahrer nennt das "die große gesellschaftspolitische Herausforderung unserer Zeit".
Von hier ist es nur ein kleiner Sprung zum Meta-Thema Gerechtigkeit. Darüber lässt sich trefflich streiten, seitdem es dank Aufklärung und Säkularisierung kein verbindliches Wertegefüge mehr gibt. Für die Konkurrenz gilt die ÖVP als Partei der Bessergestellten, der G’stopften, die auch die Politik an deren Interessen ausrichte. Wenig verwunderlich, dass Mahrer mit diesem Vorwurf nicht leben will: Eine Partei, die eine breite Mitte wolle, müsse auch eine Politik machen, von der alle profitieren können. Ein Aber gibt es aber auch: "Wir wollen diejenigen mehr fördern, die für sich selbst und ihre Kinder oder Enkeln auch etwas aufbauen möchten." Das Konzept der Solidarität in der christlichen Soziallehre sei Hilfe zur Selbsthilfe: "Wenn jemand hinfällt, muss die Gemeinschaft beim Aufstehen helfen, auch bei den ersten Schritten danach, dann muss jeder selbst weitergehen." Ein Anrecht auf unbedingte Solidarität hätten nur chronisch Kranke, Behinderte und alle Menschen, die sich nicht selbst helfen könnten. Andernfalls, so Mahrer, gerate das ganze System aus dem Gleichgewicht.
"Mehr privat, weniger Staat: Anregungen zur Begrenzung öffentlicher Aufgaben" hieß ein für die ÖVP einst programmatisches Werk, das Wolfgang Schüssel (mit Johannes Hawlik) 1983 verfasste. Seitdem gilt als ausgemacht, dass die Schwarzen im Zweifel für Privatisierung und Liberalisierung stehen, obwohl sie realiter nicht immer danach handelten. Gilt das Schlagwort von "mehr privat, weniger Staat" auch für Türkis?
Mahrer hält diese Dichotomie für überholt und will sie um Gemeinnützigkeit ergänzen. Zwischen dieser Trias soll es einen Wettbewerb um die besten und effizientesten Lösungen geben, für den der Staat den regulatorischen Rahmen bereitzustellen habe. Was besser funktioniere, sei prinzipiell offen, nur dort, "wo es um rein wirtschaftliches Handeln geht, sind wir nach wie vor überzeugt, dass privat besser ist als staatlich." Kritische Infrastruktur müsse der öffentlichen Hand gehören oder von der öffentlichen Hand so aufbereitet werden, dass sie alle nutzen können. Und ganz generell stehe die ÖVP für einen "starken Staat, aber keinen fetten Staat". Und der eine oder andere Fettpolster habe sich in Österreich überall angesammelt, ist Mahrer überzeugt, "auch in meinem eigenen Bereich".
Opposition ist Mist, lautet ein legendäres Zitat des ehemaligen SPD-Chefs Franz Müntefering, das sich Burgenlands Landeshauptmann Hans Niessl zu eigen machte, um Kanzler Christian Kern zu kontern, der bei Platz zwei den Abgang der SPÖ aus der Regierung ankündigte. Das mit der Opposition dürfte die ÖVP, egal ob jetzt neu oder alt, ähnlich sehen, schließlich sitzt sie seit 1986 auf der Regierungsbank. Wie schlimm wäre es also für die Partei wirklich, sollte diese Serie reißen? Für das Land wäre es schlimm, wenn Links und Rechts das Land steuern und die breite Mitte nicht vertreten wird. Aber das hänge letzten Endes am Wähler. Sollte es nicht klappen, wäre dann auch seine politische Karriere vorerst vorbei.