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Über Höflichkeit

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
Walter Hämmerle.
© Luiza Puiu

Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 6 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Die Klagen über den Verlust der Höflichkeit sind mit großer Sicherheit so alt wie die Beschwerden der Alten über die Jungen. Der Niedergang der Sitten ist so gesehen eine anthropologische Konstante.

Dessen sollte man sich also bewusst sein, wenn einen wieder einmal das Gefühl beschleicht, um die Benimmregeln im zwischenmenschlichen Umgang stünde es im Hier und Heute besonders schlecht. Schließlich will niemand so klingen, wie die Alten immer schon geklungen haben.

Viel spricht dafür, dass die Ge- und Verbote der Höflichkeit zu allen Zeiten einen wesentlichen Beitrag geleistet haben, die Welt zu einem angenehmeren, friedlichen Ort zu machen. Das gilt uneingeschränkt auch für etliche Widrigkeiten unserer Gegenwart. Sicher, korrekte Umgangsformen seitens der Spitzen der internationalen Politik lösen keinen Interessensgegensatz in der Weltpolitik auf, aber der Verzicht auf persönliche wie virtuelle Beleidigungen und Pöbeleien würde wenigstens für eine entspanntere Gesprächsatmosphäre sorgen. Wie überhaupt die Politik am stärksten unter dem - oft von ihr selbst losgetretenen - Verfall der zivilisierten Umgangsformen leidet.

Ganz unten, auf der lokalen Ebene, zeigen sich dann die ganz realen Auswirkungen im öffentlichen Raum. In der Hitze des Straßenverkehrs, im Verhalten in Bus, Bahn, Bim und U-Bahn.

Höflichkeit ist eine bemerkenswerte Kombination: Ihr Grundgedanke ist Distanz, emotionale wie körperliche, versteckt hinter einer glatten Freundlichkeit, von der niemand tatsächlich etwas erwarten würde. Es ist ein Schutzmechanismus, wie geschaffen für den engen Raum und die Vielzahl an Menschen, die unser Zusammenleben bestimmen. Die Distanz der Höflichkeit ermöglicht eine neutrale Gleichgültigkeit, die andere Meinungen und Lebensformen für sich stehen lässt. Hier will keiner den anderen von der eigenen Meinung überzeugen. Solange diese Meinung einem nur nicht zu nahe tritt.

Für ihren Erfolg im zwischenmenschlichen Miteinander ist Höflichkeit auf Reziprozität angewiesen: Erst so entsteht ein öffentlicher Raum, der groß genug ist für eine breite Palette an Meinungen und Kulturen.

Und weil wir die Höflichkeit als oberstes Verhaltensprinzip in der Öffentlichkeit verlernt haben, muss sich der Staat als oberster Erzieher aufspielen. Etwa indem er bei Strafe untersagt, Dinge zu tun, die andere Menschen belästigen oder als grob störend empfinden. Das Essen geruchsstarker Speisen in der U-Bahn zum Beispiel. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Sollte man jedenfalls glauben. Ist es aber nicht.

Auf diese Weise stolpert eine liberale Gesellschaft über ihre eigenen Missverständnisse.