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Mitleid ist zweifellos eines der mächtigsten Gefühle. Für das Christentum ist es eine der tragenden Säulen, und der Philosoph Arthur Schopenhauer nannte es die Grundlage jeder Moral, weil es ein starkes Gegengewicht zum Egoismus bildet. Nur Friedrich Nietzsche, dieser Geist, der stets verneinte, verachtete die Mitleidenden wie die Bemitleideten.
Ob Mitleid auch eine politische Kategorie ist, wird sich am Abend des 15. Oktobers weisen. Aktiv ist es das gewiss: Alle Parteien identifizieren für sich Gruppen, denen geholfen werden soll: Arme, Flüchtlinge, Alleinerziehende, vom Schicksal Getroffene und auch Tiere.
Mitunter aber geschieht es, dass die Wähler auch für Parteien oder Politiker Mitleidsgefühle entwickeln. Das ehrt die Bürger, aber was ist mit den Politikern?
Mitleid ist ein Gefühl, dass wir jenen entgegenbringen, von denen wir glauben, sie hätten es schlechter getroffen. Ob man will oder nicht, entsteht ein Beziehungsgefälle zwischen dem Mitleidenden und Bemitleideten. Von daher ähnelt das Gefühl der Furcht: Es besteht keine Gleichheit zwischen dem, der sich fürchtet, und dem Objekt seiner Furcht. Der Mitleidende wie der Gefürchtete sind in der überlegenen Position. Deshalb war es den Mächtigen aller Zeiten stets lieber, gefürchtet statt geliebt zu werden.
Was aber passiert, wenn die Bürger mit einem Mächtigen mitleiden? Geht das überhaupt, oder verliert jemand, dem Mitleid entgegenschlägt, automatisch seine Aura der Überlegenheit? Und vor allem: Geben die mitleidenden Bürger diesem dann auch ihre Stimme?
Auszuschließen ist es nicht. Die Politik der Gefühle bietet nicht nur Platz für Wut, Angst und Neid. Aber der politische Auftrag, der zum überwiegenden Teil auf dem Mitleid der Bürger gegenüber einer Partei, einem Politiker beruht, ist ein zerbrechliches Konstrukt. Die allermeisten Menschen erwarten sich von den Politikern ihrer Wahl Führung und Orientierung; beides ist unweigerlich mit Stärke und Charisma verbunden. Mitleid zu empfangen, kann deshalb in harten Zeit Trost spenden, für Politiker ist es jedoch karrieregefährdend.
"Die Leute sind nett zu mir, aber aus Mitleid. Das spüre ich schon seit einiger Zeit", klagte der unterlegene SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz. Er ahnte, dass das nicht das Fundament ist, auf dem man einen Wahlsieg aufbaut.