"Hoher Friedensrat" soll erstmals direkte Gespräche mit Taliban führen.
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Kabul/Washington. Noch vor zehn Jahren gab es gar keine nationalen afghanischen Sicherheitskräfte - weder Polizei, noch Armee. Seit mehreren Jahren widmen sich die internationalen Truppen vor Ort dem Aufbau von eigenständig operierenden heimischen Polizei- und Armeekräften. Am Dienstag verkündete der afghanische Präsident Hamid Karzai, dass fortan die afghanischen Sicherheitskräfte die Sicherheitsverantwortung im gesamten Land übernehmen. Die Nato-Truppen sollen nur mehr unterstützend eingreifen und sich vor allem ihrem Abzug widmen. Was die einen als "Meilenstein" bezeichnen, löst bei anderen mulmige Gefühle aus.
Seit März 2011 wurden sukzessive, nach Sicherheitslage ausgewählte Bezirke des Landes übergeben. Am Dienstag ging die fünfte und letzte Tranche an die lokalen Sicherheitskräfte.
Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen war zur feierlichen Sicherheitsübergabe nach Kabul gereist. "Das ist ein Tag voller Stolz für Afghanistan", erklärte er in seiner Ansprache. Gesamt umfassen Armee und Polizei heute 350.000 Mann. Rasmussen sagte, die afghanischen Kräfte hätten gezeigt, dass sie "schnell und kompetent mit komplexen Angriffen" umgehen könnten.
Andere Beobachter, etwa der russische Sondergesandte für Afghanistan, Zamir Kabulov, meinte hingegen, dass die Zahlen zwar beeindruckend aussähen. In Wirklichkeit handle es sich aber um einen "Papiertiger", da die Zahl nichts über die Qualität der Kräfte aussage. Von 23 Brigaden könne nur eine selbständig kämpfen, zudem fehle es an geeigneter, eigener Luftunterstützung.
Mit Ende 2014 geht der Kampfeinsatz der Nato-Truppen gänzlich zu Ende. Gleichzeitig startet die neue Mission "Resolute Unterstützung", die weiterhin afghanische Sicherheitskräfte trainiert, berät und finanziert.
Überschattet wurde die Erklärung Karzais von einem Bombenanschlag auf den Autokonvoi eines Parlamentariers, bei dem drei Zivilisten ums Leben kamen und 30 weitere verletzt wurden. Nach wie vor verüben aufständische Gruppierungen Attentate, um das Land zu destabilisieren. Da es militärisch ungenügende Fortschritte gibt, versucht die Regierung diese Gruppen an den Verhandlungstisch zu bekommen und den Konflikt politisch zu lösen.
Taliban-Gespräche in Doha
2010 wurde dafür von Regierungsseite der "Hohe Friedensrat" gegründet. Dessen erster Leiter und Ex-Präsident Afghanistans, Burhanuddin Rabbani, wurde nach elf Monaten im Amt von Taliban bei vorgetäuschten Verhandlungen durch einen in einem Turban versteckten Sprengsatz getötet. Sein Sohn Salahuddin beerbte ihn. Vor etwa einem Jahr wurde ein Büro in Doha, Katar, installiert, das oft als "politisches Büro der Taliban" bezeichnet wird. Diese Adresse, die wohl in den nächsten Tagen auch offiziell eröffnet wird, soll genutzt werden, um mit verschiedensten Aufständischen in Kontakt zu treten und Verhandlungen zu führen. Neben Taliban bekämpfen auch andere, bewaffnete Gruppen die Regierung Karzais (siehe Kasten).
Am Dienstag machte Karzai nach jahrelangem Stillstand einen ersten Durchbruch publik. Afghanistan beabsichtige, Vertreter nach Qatar zu schicken, um Friedensgespräche mit Taliban zu führen. Bisher hatten sich die Taliban vehement geweigert, direkte Gespräche mit der Regierung Karzais aufzunehmen.
Laut einer regierungsnahen Quelle bietet die Regierung den Gruppen im Gegenzug zur Niederlegung der Waffen und der Akzeptierung der afghanischen Verfassung aktive Rollen im politischen Prozess des Landes an. Dass sich hartgesottene Taliban in einen demokratischen Prozess einbinden lassen, bezweifelt Davood Moradian vom Afghanischen Institut für Strategische Studien in Kabul jedoch. Talib sein sei eine Ideologie, die keine demokratischen Prozesse kenne, weshalb er die Chancen etwa einer Partei "moderater" Taliban für nicht existent erachtet. "Es gibt ja auch keine halben Nazis."
Wissen
Die oberste Instanz unter den Taliban ist die Quetta Shura, benannt nach dem Ort in Pakistan, in denen sich ihre Anführer aufhalten sollen. Die Quetta Shura wird vom obersten Taliban, Mullah Omar, angeführt und entstand aus den Resten der 2001 gestürzten Taliban-Regierung von Afghanistan, die von 1996 bis 2001 an der Macht war. Darunter soll es vier regionalemilitärische Shuras, etwa die Peshawar Shura, geben, die für verschiedene Regionen in Afghanistan zuständig sein sollen. Die islamistische Miliz Hizb-e-Islami unter der Führung des ehemaligen Premiers Gulbuddin Hekmatyar spielte sie in den 1980er und 1990er Jahren im Kampf gegen die sowjetische Besatzung und dem afghanischen Bürgerkrieg eine zentrale Rolle. Sie ist die zweitgrößte militante Bewegung nach den Taliban. Sie spaltete sich nach der Gründung des neuen afghanischen Staates 2001 auf. Teile davon findet man heute etwa auch in der afghanischen Präsidialadministration. Das Haqqani-Netzwerk ist eine in Afghanistan und Pakistan aktive Terrorgruppe, der enge Beziehungen zur Al-Kaida nachgesagt werden. Das Netzwerk wird für zahlreiche Anschläge in Afghanistan verantwortlich gemacht. Ihre Rückzugsbasis befindet sich in Nordwaziristan und wird immer wieder von US-Drohnen angegriffen. Das Islamic Movement of Uzbekistan ist einer der wichtigsten Verbündeten der Al-Kaida und der Taliban und unterstützt deren Operationen in Afghanistan, Pakistan, aber auch in Europa. Gleichzeitig verübt die Organisation Anschläge in Zentralasien. Die Größe der Al-Kaida in Afghanistan ist umstritten. Die USA gingen bis 2012 von 50 bis 100 Al-Kaida-Kämpfern aus. Immer wieder aber wird auch von ausländischen Kämpfern in größeren Zahlen berichtet.