Im Westen steigt die Kriegsangst, Ukrainer bemühen sich um einen kühlen Kopf. Gleichzeitig boomen Schießtrainings.
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Wie die meisten Männer in Kiew beantwortet Oleksandr Biletskyi die Frage, ob er sich in der aktuellen Situation fürchte, mit "Nein". Die Ukraine befinde sich ohnehin schon seit acht Jahren im Krieg und der Truppenaufbau an der Grenze habe auch nicht erst gestern begonnen, sagt der 47-jährige Kriegsveteran. Am letzten Samstag im Jänner organisiert er gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Olena ein kostenloses Selbstverteidigungs- und Überlebenstraining für Frauen in einem grauen und klotzigen Universitätsgebäude in einem Randbezirk von Kiew. Bevor die Teilnehmerinnen eintreffen, packt er den Inhalt seiner Taschen auf dem Rednerpult des Amphitheater-ähnlichen Hörsaals aus: darunter einen Kompass, ein Taschenmesser, Klebeband, Karabiner und eine Schnur. Außerdem dabei hat er eine Kalaschnikow, eine Schrotflinte und eine Pistole. "Wir müssen auf alles vorbereitet sein."
"Zeigen Frauen, wie sie sich in Sicherheit bringen"
Untätig dabei zuschauen, wie die diplomatische Maschinerie auf Hochtouren läuft, die US-Regierung den Abzug ihres Botschaftspersonals ankündigt und europäische Staatsoberhäupter mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin telefonieren, will Biletskyi nicht. "Wir zeigen den Frauen, wie sie sich selbst und ihre Familien in Krisensituationen in Sicherheit bringen. Frauen sind gewissenhafter als Männer. Sie werden dieses Wissen an ihr Umfeld weitergeben", sagt er und spricht über den Ernstfall so, wie man es von einem ehemaligen Soldaten erwartet: nüchtern. "Menschen sind wie Ratten. Sie werden immer einen Weg finden, zu überleben."
Biletskyi hat den Krieg am eigenen Leib erfahren. Er hat im Osten der Ukraine gekämpft, wo sich die Armee des Landes seit 2014 den von Russland finanzierten und unterstützten Separatisten entgegenstellt. Während er zur Front geschickt wurde, gründete seine Ehefrau Olena über Facebook zuhause in Kiew die "Ukrainische Frauengarde" , eine Gruppe von Freiwilligen, die sich gegenseitig emotional unterstützt und auch noch Schießen und Selbstverteidigung beibringt. "Eine ähnliche Gruppe für Männer gab es zu diesem Zeitpunkt schon. Aber niemand wusste, was man mit den Frauen anfangen soll", sagt die 39-jährige Anwältin auf Russisch. Während ihr Mann sich schon lange weigert, seine Muttersprache zu sprechen, und sich nur noch des Ukrainischen bedient, gibt sich Olena Biletska ob ihrer mangelnden Englischkenntnisse da eher pragmatisch und macht für Ausländer auch einmal eine Ausnahme.
Zuletzt war die Frauengarde im Jahr 2018 aktiv, mehr als 30.000 Frauen haben die Trainings absolviert, erklärt Biletska. Erst die aktuelle Sicherheitslage hat das Ehepaar dazu veranlasst, die Gruppe wieder ins Leben zu rufen. "Die Frauen, die zu uns kommen, haben eines gemeinsam: Sie wollen sich informieren. Ihnen fehlt das Wissen darüber, welche Vorräte man in Krisensituationen zu Hause haben muss, wo man sich verstecken soll und wie man ein nachbarschaftliches Netzwerk aufbaut", sagt sie.
Die Sitzreihen des mit roten Teppichen ausgelegten Hörsaals füllen sich an diesem Tag nicht mit Studentinnen, sondern mit Frauen aus allen Gesellschaftsschichten: Fitnesstrainerinnen, Mütter, Ärztinnen, laut den Veranstaltern 200 Personen. Damit, dass der Andrang auf ihren Kurs so groß werden würde, hat das Ehepaar trotz der alarmierenden Ereignisse der vergangenen Wochen nicht gerechnet. Weitere Treffen sind bereits in Planung, um der hohen Nachfrage gerecht zu werden. "Das Wichtigste ist, dass ihr euch mental auf das schlimmste Szenario vorbereitet", beginnt Biletskyi seinen Vortrag.
Gezielt wird auf Kehle und Schläfe
Die Frauen, viele von ihnen haben lange, manikürte Nägel und schöne, bunte Notizbücher, schreiben eifrig mit. Das Bedürfnis nach Vorbereitung ist groß. Viele beklagen, dass sie nicht wissen, wo sie sich sonst informieren sollen. Einige haben die Annexion der Krim und den Ausbruch des Krieges in der Ostukraine im Jahr 2014 selbst miterlebt, bevor sie in die Hauptstadt flohen, und möchten nicht noch einmal hilflos einer solchen Situation ausgesetzt sein.
Biletskyi spielt verschiedene Szenarien durch, die sich in der Vergangenheit in Kriegen zugetragen haben: die Belagerung Madrids im Jahr 1936, die Einkesselung Stalingrads im Jahr 1942, die Schlacht um Aleppo 2016. Ein befreundeter Soldat bittet eine Kursteilnehmerin auf die Bühne und demonstriert, wie man einen Angreifer abwehrt. Er rät ihr, auf die Kehle und die Schläfe zu zielen, und zeigt, wie - wenn richtig eingesetzt - sogar aus ihrem Schreibblock eine Waffe werden kann.
Wie groß zurzeit das internationale Interesse an der Ukraine ist, zeigt sich in der Mittagspause, als plötzlich mehrere Kamerateams internationaler TV-Sender den Saal bevölkern. Hektisch stellen sie ihr Equipment und die Stative auf, halten den Teilnehmerinnen das Mikro ins Gesicht und fragen: "Wie fühlen Sie sich? Glauben Sie, dass Russland einmarschieren wird?" Nachdem die O-Töne im Kasten sind, zieht der Presse-Trupp auch schon hektisch weiter zum nächsten Termin.
Während eine Abgeordnete des Parlaments halb ironisch, halb besorgt über einen Stripclub twittert, der im Notfall als Luftschutzbunker vorgesehen ist, wirbt die staatliche Tourismuswebseite mit dem Motto "Keep calm and visit Ukraine".
Doch im Moment kommen vor allem die internationalen Korrespondenten. Seit Wochen fliegen immer mehr Medien sie in die ukrainische Hauptstadt ein, über die sonst meistens aus den Büros in Moskau und Warschau per Fernanalyse berichtet wird. Sie sind dieser Tage kaum zu übersehen, stehen an den bekannten Plätzen der Stadt, suchen nach Interviewpartnern und drehen Schnittbilder. Ihnen hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei einer Pressekonferenz vergangene Woche versichert, dass es keinen Anlass zur Panik gebe. Viele seiner Landsleute sehen das anders.
Zeitgleich zum Selbstverteidigungskurs der Frauen findet auf der anderen Seite der Stadt ein Kampftraining der Reservisten statt. Auf dem Gelände einer ehemaligen Asphaltfabrik, am äußersten Stadtrand, trifft sich die Gruppe, die sich den "Territorialen Verteidigungsbataillons" angeschlossen hat, seit einigen Wochen wieder jeden Samstag, um in Camouflage gekleidet taktische Militärübungen zu absolvieren. Die "Territorialen Verteidigungsbataillone" sind ein Ableger der regulären ukrainischen Armee und wurden nach Ausbruch des Krieges im Jahr 2014 gegründet, um hunderttausende Teilzeitreservisten für eine unterstützende Rolle im Kriegsfall auszubilden. Laut einer Umfrage des Kiewer Meinungsinstituts "KIIS" von vergangenem Dezember ist ein Drittel der befragten Ukrainer bereit, im Ernstfall selbst zur Waffe zu greifen.
"Ich war bei zwei Revolutionen dabei"
Ob im Selbstverteidigungs-Training für Frauen, bei den Reservisten am Stadtrand oder am Schießstand von Babyn Yar: Hilfe zur Selbsthilfe ist wie schon so oft zuvor das Motto des aktiven Teils der ukrainischen Gesellschaft, um nicht völlig dem Gefühl der Hilf- und Ratlosigkeit zu erliegen. "Wir versuchen, normal weiterzuleben, aber es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns auf den Ernstfall vorzubereiten", sagt Julia Sokolwjak, 35 und Englischlehrerin, im Hörsaal nach dem Vortrag des Kriegsveteranen Biletskyi. Spontan gründet sie einen Telegram-Kanal, über den sich die Anwesenden auf dem Laufenden halten können. "Ich war bei zwei Revolutionen dabei und weiß, was in diesem Land alles möglich ist. Man hat immer das Gefühl, dass jederzeit etwas Schlimmes auf einen zukommen kann."
Mit ihren Verwandten in Russland hält Julia Sokolwjak nur noch minimalen Kontakt. "Wir sprechen nicht über Politik. Es geht einfach nicht. Ich habe das Gefühl, dass sie von den russischen Medien völlig gehirngewaschen wurden." Noch am selben Abend wird sie mit den Nachbarn in ihrem fünfstöckigen Wohnhaus sprechen und fragen, wer von ihnen schon Fluchtrouten vorbereitet hat.