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Überlebenskünstler und Überraschungsverlierer

Von Walter Hämmerle

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2006 kannte keine Gewissheiten. | Neue Flexibilität statt alter Denkmuster in Innenpolitik. | Wien. Nicht nur das Leben, auch die Politik steckt zuweilen voller Überraschungen. Und 2006 war in dieser Hinsicht ein besonders ergiebiges Jahr: Längst abgeschriebene Politiker erwiesen sich als Überlebenskünstler und sogenannte sichere Gewinner standen am Ende mit leeren Händen da.


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Als Steher mit Nehmerqualitäten entpuppte sich Alfred Gusenbauer. Platz eins der SPÖ bei den Nationalratswahlen am 1. Oktober war zweifellos eine Sensation. Gusenbauer hat - dank Bawag-/ÖGB-Affäre auf vermeintlich verlorenem Posten kämpfend - stets an seine Chance geglaubt. Seine Kampagne hatte das bessere Gespür für die Themen, die die Menschen bewegen. Geborgenheit und soziale Wärme braucht der Mensch nun einmal in allen Lagen!

SPÖ-Kampagne besser

Die aggressive Kampagne gegen den Kanzler hat das ihrige zur Mobilisierung der SP-Wähler beigetragen beziehungsweise VP-Wähler vom Urnengang abgehalten. Wahlkampf kommt eben von Kämpfen, auch wenn die Wahl der Waffen nicht immer aus dem Chemie-Labor stammen muss ("pures Napalm" hatte SPÖ-Werber Schober versprochen und Wort gehalten).

Als trügerisch erwies sich die Sicherheit, in der sich die ÖVP wähnte. Sie war sich ihrer Sache vor dem 1. Oktober zu gewiss, ließ sich von gewogenen Umfragen zu einem seltsam passiven Wahlkampf verleiten. Acht Prozentpunkte verlor die Kanzlerpartei, womit die breite Wählerkoalition, die der Volkspartei 2002 mit Hilfe geliehener FPÖ-Stimmen (Grasser-Effekt samt Knittelfeld) die Position als klare Nummer eins gebracht hatte, wieder Geschichte ist. Wählerstromanalysen zeigten aber, dass die ÖVP nach allen Richtungen verlor - sogar die wenigen Stimmen von Hans-Peter Martin gingen vorwiegend auf das Konto der Schwarzen.

Aber geteiltes Leid ist bekanntlich halbes Leid: Der Abwahl der schwarz-orangen Koalition steht auch 2006 keine rot-grüne Mehrheit gegenüber. Nach derzeitigem Kräftestand ist weder rechts noch links der Mitte eine stabile Mehrheit in Sicht. SPÖ und Grüne kommen lediglich auf 89 Mandate, die kleinste mögliche Mehrheit beginnt mit 92 Abgeordneten aufwärts.

Daraus zu schließen, Mitte-Rechts hätte bestehend aus ÖVP, FPÖ und BZÖ eine sichere Mehrheit von 94 Mandaten, hieße jedoch die politische Realität zu verkennen: Die FPÖ ist längst nicht mehr zweifelsfrei dem rechten Lager zuzuordnen. Die Partei segelt bereits seit Jahren auf einer Mischung aus sozialpolitischem Linkspopulismus und ressentimentgeladenem Rechtspopulismus auf Erfolgskurs. FPÖ-Obmann Heinz-Christian setzt hier - zurück in der gewohnten Oppositionsrolle - lediglich auf ein altes Erfolgsrezept, dem durch die Regierungsbeteiligung vorübergehend der Boden entzogen war.

Grüne auf Platz drei

Während 2006 nach dem existenzgefährdenden Spaltungsjahr 2005 für die FPÖ eine Stabilisierung auf niedrigem Niveau brachte, fällt die Bilanz aus Sicht der Grünen ambivalent aus. Auf der Haben-Seite steht - erstmals in der Geschichte der Ökopartei! - Platz drei vor der FPÖ, wenngleich mit einem nur hauchdünnen Vorsprung von 0,01 Prozent. Dies lässt die einstige Anti-Partei in neue Sphären der Staatsrepräsentation vorstoßen, stellen die Grünen doch nun den dritten Nationalratspräsidenten und ab Jahresmitte 2007 auch einen Volksanwalt.

Allerdings spricht viel dafür, dass dieser dritte Platz nur geliehen und weniger der eigenen Stärke zu verdanken ist. Immerhin hat - auch dies zählt zu den veritablen Überraschungen des Jahres 2006 - auch das Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ) knapp, aber doch den Sprung über die Vier-Prozent-Hürde bei den Nationalratswahlen geschafft.

Addiert liegt das freiheitliche Lager deutlich vor den Grünen. Tritt das dritte Lager wieder vereint an, ist Platz drei für die Grünen zumindest mittelfristig wohl wieder außer Reichweite. Abzuwarten bleibt die Zukunft des BZÖ. Dieses will sich als rechts-liberale Partei der Leistungsträger neu positionieren. Aus heutiger Sicht mangelt es für ein solches Projekt jedoch an Inhalten und Personen.

2006 war ein Jahr der überraschenden Wendungen: Selbst im Rückblick fällt es schwer, Ereignisse und Trends auf einen Nenner zu bringen. Die Lager links und rechts der Mitte stehen sich neutralisiert gegenüber, sie verschwimmen an ihren Rändern. Das wird auch an den Schwierigkeiten der Regierungsbildung deutlich.

Stabilität im Sinne sicherer Mehrheit bietet allein die große Koalition. Und dass selbst Rot-Schwarz allenfalls rechnerisch, nicht aber politisch stabil ist, zeigen die laufenden, quälend langsamen Verhandlungen. Alle anderen Varianten müssen sich auf eine Dreier-Koalition stützen. Deren Instabilität erweist sich aus dem Antagonismus, den SPÖ und Grüne auf der einen und FPÖ und BZÖ auf der anderen Seite pflegen. Hinzu kommen scheinbar unüberbrückbare Animositäten zwischen Blau und Orange.

Die Probleme bei der Regierungsbildung widersprechen der neu entdeckten Flexibilität im Alltag. Dass diese bereits vor dem 1. Oktober Einzug gehalten hat, zeigt die Wahl von Alexander Wrabetz zum neuen ORF-Generaldirektor. Mit einer bunten Mischung aus Rot, Orange, Grün und Blau wurde der SPÖ-nahe ORF-Finanzdirektor im September gegen die Stimmen der ÖVP ins mächtigste Medienamt der Republik gehoben. Auch die Einsetzung der Untersuchungs-Ausschüsse zum Eurofighter-Kauf und Banken-Aktivitäten mit den Stimmen von SPÖ, Grünen und FPÖ macht die neue Flexibilität im Denken deutlich.

In der Arbeitswelt wird mit Flexicurity, eine Mischung aus Flexibility und Security, die Symbiose zweier vordergründig unvereinbarer Werte als arbeitsmarktpolitischer Lösungsansatz praktiziert. Anscheinend hat 2006 auch die Innenpolitik diese Strategie für sich entdeckt. Mit ihrem Bekenntnis zum Ziel einer großen Koalition kommen SPÖ und ÖVP dem weit verbreitenen Sicherheitsbedürfnis nach. Das Spiel mit anderen Mehrheiten befriedigt ihre Lust nach eigenen, neuen Wegen.