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"Überlebensnotwendig"

Von Walter Hämmerle

Politik
© WZ/Andreas Urban

Alt-Kanzler Wolfgang Schüssel über die Bedeutung von gutem Journalismus und warum das Einordnen politischer Gegner in engen Schubladen Ausdruck eines Machtkampfs ist.


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An diesem Sonntag, dem 7. Juni, feiert Wolfgang Schüssel seinen 75. Geburtstag. Seit seinem Abgang von der Politikbühne 2008 hat sich der ehemalige Bundeskanzler einer erst schwarz-blauen (2000 bis 2005), dann schwarz-orangen Koalition (2005 bis 2007) und längstdienende ÖVP-Obmann (1995 bis 2007) rar gemacht. Abseits der großen Bühne ist der überzeugte Europäer nach wie vor aktiv, unter anderem als Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik und die Vereinten Nationen, als Aufsichtsrat des Energiekonzerns RWE, des russischen Mobilfunkanbieters MTS und Mitglied im Board of Directors des Mineralölkonzerns Lukoil sowie als Vorsitzender des Kuratoriums der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Anlässlich des Erscheinens seines neuen Buches "Was.Mut.Macht. Bemerkungen und Bemerkenswertes" bestreitet Schüssel dieser Tage einen wahren Interviewmarathon. Die "Wiener Zeitung" sprach mit ihm über die Krise der Öffentlichkeit, den Überlebenskampf des Qualitätsjournalismus und die Etikettierung von politischen Gegnern als Machtkampf um die Definition von Begriffen.

"Wiener Zeitung": Ihr neues Buch besteht aus persönlichen Anekdoten und Erinnerungen. Dabei streifen Sie immer wieder, und zwar durchaus kritisch, den Zustand unserer Öffentlichkeit, sei es in Österreich, Europa oder auf die große internationale Politik bezogen. Steckt dahinter eine bewusste Botschaft?

Wolfgang Schüssel: Das kommt darauf an, was Sie unter "Öffentlichkeit" verstehen.

Sie betonen wiederholt den Stellenwert inhaltlicher Auseinandersetzungen, die Kraft von Argumenten und fordern von Politikern den Mut, sich solchen Debatten offensiv zu stellen. Gleichzeitig beschreiben Sie Angela Merkel als fast ideale Politikerin. Dabei steht die deutsche Langzeitkanzlerin für eine Politik, die im Stillen entscheidet und fast gar nicht öffentlich wirbt, überzeugt und erklärt.

Sie mischen hier zwei Ebenen. Meine Bewunderung für und die Freundschaft mit Angela Merkel richtet sich auf die Person; diese halte ich für etwas ganz Besonderes. Das gilt aber auch für etliche andere, die ganz anders als Merkel sind oder waren, etwa Helmut Kohl. Die Frage der Öffentlichkeit ist dagegen von allgemeiner Bedeutung: Demokratie braucht Öffentlichkeit und eine vielfältige öffentliche Auseinandersetzung, die aber nicht nur von einer Person getragen werden kann. Die Verengung und Fokussierung auf eine Person, sei es in der Politik, Wirtschaft oder dem Sport, ist eine bedauerliche Entwicklung unserer Zeit. Unsere Demokratie benötigt eine bunte inhaltliche Diskussion wie die Luft zum Atmen - und zwar innerhalb der demokratischen Institutionen, vor allem in den Parlamenten. Unsere Demokratie braucht Drama, in China ist das anders.

Wie meinen Sie das, unsere Demokratie brauche Drama?

Es muss sich etwas "abspielen", es braucht die inhaltliche Auseinandersetzung. Die Wähler müssen in einer Demokratie den einen Politiker abwählen und einen anderen hinaufwählen können. Es muss ein ständiges Ringen sein um Mehrheiten, Vertrauen und Macht, die aber immer nur zeitlich befristet vergeben werden kann. Einer meiner Mentoren, Karl Pisa, hat in seinem Handbuch für Politiker geschrieben, Macht sei wie ein Messer, das ein Politiker aber nicht ständig in der Hand halten dürfe, welches er auch an andere übergeben könne; diese Person muss er dann aber genau im Auge behalten, auf dass mit der Waffe nichts Falsches geschehe. Das halte ich für gut beobachtet. Deshalb ist es auch völlig falsch, wenn Medien ständig entweder von Kuschelkurs oder ewigem Streit berichten. Gott sei Dank wird inhaltlich substanziell diskutiert, jetzt etwa über den 750 Milliarden Euro schweren EU-Aufbaufonds.

Aber es wird ja eben nicht wirklich inhaltlich diskutiert, sondern die Gegner und Befürworter werden sofort in zwei moralisch aufgeladene Gruppen geteilt, in diesem Fall eben in schlechte und gute Europäer.

Und das ist schlecht. Genau dagegen versuche ich ja auch zu argumentieren.

Haben Sie eine Erklärung, warum heute jedem inhaltlichen Dissens in der Politik sofort eine moralische Kategorie zugewiesen wird?

Es war immer schon so, dass inhaltliche Auseinandersetzungen moralisch aufgeladen werden. Ich halte das für gefährlich, weil wir dadurch sehr schnell in ein Freund-Feind-Schema hineingeraten. Und aus solchen dichotomen Weltbildern von richtig gegen falsch, Gut gegen Böse, die Kräfte des Lichts gegen jene der Dunkelheit findet man nur schwer wieder heraus.

Aber genau an diesem Punkt stehen wir ja jetzt.

Ja, leider, und in meinem Buch plädiere ich dafür, dass man etwas ruhiger und überlegter an die Dinge herangehen kann. Nehmen Sie Europa: Es ist nicht jeder ein guter Europäer, der einfach abnickt, was Deutschland und Frankreich gemeinsam vorschlagen. Es kann auch ein guter Europäer sein, wer einen alternativen Vorschlag unterbreitet, der womöglich sogar noch genauer auf die bestehenden Probleme hinzielt. Dieses Freund-Feind-Schema lehne ich auch ab, wenn es darum geht, bestimmten Gruppen prinzipiell die Regierungsfähigkeit abzusprechen. In den USA wurde Katholiken lange Zeit das Recht abgesprochen, in öffentliche Ämter gewählt zu werden, weil sie automatisch als Büttel des Papstes gesehen wurden. Von solchen Einteilungen müssen wir wegkommen. Jeder, der für eine Partei handelt, sollte wissen, dass er - gemäß der Bedeutung des lateinischen "pars" - nur für einen Teil spricht und daher nie für das Ganze stehen kann.

Warum sind wir trotzdem in dieser Falle gefangen, zumal dies ja nicht das erste Mal der Fall ist? Schon Friedrich Heer hat Österreichs Geschichte als Kampf gegensätzlicher Kulturen und Identitäten beschrieben.

Ich hatte das Glück, Heer noch persönlich zu kennen - als junger freier Mitarbeiter der "Furche", wo er Redakteur war. Heer verstand diese gegensätzlichen österreichischen Identitäten nie als abgeschlossen oder unveränderbar, sondern als dynamisch. Zur österreichischen ist etwa heute längst die europäische Identität hinzugekommen. Aber wie gesagt: Solche Freund-Feind-Verhältnisse hat es immer gegeben, und das ist auch keine österreichische Spezialität, sondern findet sich auch in anderen Staaten und Gesellschaften. Ich glaube aber schon, dass die Gegensätze heute insgesamt schwächer geworden sind, vor allem bruchstückhafter; sie sind kleiner und nicht mehr so geschlossen wie noch vor dreißig, fünfzig, geschweige denn vor hundert Jahren.

© WZ/Andreas Urban

Warum?

Das mag auch damit zusammenhängen, dass in manchen politischen Parteien die Offenheit geringer geworden ist. Die Sozialdemokratie war aus meiner Sicht früher breiter aufgestellt als heute, die ÖVP dagegen hat heute eine größere Breite als in den 1960er und 1970er Jahren. Wie das bei den Grünen ist, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Vielleicht ist diese verschärfte Konfrontation aber auch ein Ergebnis des aktuell sehr intensiven Kampfes um die Meinungshoheit in vielen Bereichen. Ich weiß auch nicht wirklich, warum ausgerechnet jetzt dieser Kampf wieder in so vielen Ländern so deutlich hervortritt, denken Sie an Großbritannien, an Italien, Frankreich, natürlich die USA. Es fehlen auf jeden Fall Persönlichkeiten, die auf beiden Seiten Anerkennung finden, die zwischen den Lagern vermitteln können.

Bleibt die Frage, warum sich auch Medien in diesen moralisch aufgeladenen Konflikt der politischen Lager hineinziehen lassen und jetzt als Mittler ausfallen?

Diese Fragen muss man den Medien stellen, die das gemacht haben, und sie vor allem nach dem Grund fragen, warum sie diesen Konflikt auch noch forcieren. Man sollte das nicht damit verwechseln, eine "Haltung" zu haben. Das ist notwendig und richtig. Aber auch andere Perspektiven zuzulassen, halte ich nicht nur für notwendig, sondern sogar für befruchtend und inspirierend.

Womöglich spielt der Kampf vieler Medien um ihr wirtschaftliches Überleben hier mit eine Rolle. Nach wie vor fehlen nachhaltige Geschäftsmodelle für unabhängigen Qualitätsjournalismus unter digitalen Bedingungen. Und jeder Journalist weiß, dass nicht jeder Leser Widerspruch zu seiner eigenen Meinung in "seiner" Zeitung verlässlich als Bereicherung, sondern oft als Zumutung empfindet.

Ich erwarte mir von den Medien, die ich konsumiere - und ich bin vor allem ein Zeitungs- und Radio-Mensch -, dass ich dort auch Meinungen finde, die der meinigen widersprechen.

Sie sind allerdings wohl kaum repräsentativ als Medienkonsument.

Trotzdem würde ich eine solche Entwicklung als Gefahr für das Überleben von Qualitätsmedien empfinden, zumindest bei Print. Natürlich sehe ich, dass gerade in der Corona-Krise der Print-Branche die Einnahmen aus den Anzeigen wegbrechen. Aber jede Verengung halte ich für das falsche Gegenrezept in der heutigen Zeit, egal, ob es sich um Qualitätsmedien oder Parteien handelt. Das Gegenteil ist notwendig: Hinausgehen, breiter werden! Ansonsten endet man als Sekte. Gerade die aktuelle Krise zeigt ja, wie wichtig Journalismus tatsächlich ist, wichtiger jedenfalls als Klopapier. Ich bin zutiefst überzeugt, dass gute Information nicht nur systemrelevant, sondern überlebensnotwendig ist. Deshalb ist es wichtig, Qualitätsjournalismus mit öffentlichen Mitteln zu unterstützen, sei es in Form von gezielten Förderungen für Auslandskorrespondenten, bestimmte Vertriebssysteme oder bestimmte Anteile von Europa- und Kulturberichterstattung. Ich habe mit solchen Formen staatlicher Unterstützung kein Problem, und ich würde nicht alles rein auf der gedruckten Auflage aufhängen.

Sie selbst haben gerade betont, wie wichtig unabhängige Informationen sind. Das stimmt sicher für die Demokratie, vor allem für die Bürger. Konzerne, Behörden, Kammern und auch Parteien brauchen die klassischen Medien allerdings immer weniger als Mittler zu ihren "Kunden", weil sie längst eigene Kommunikationskanäle aufgebaut haben.

Das ist sicher richtig, ich glaube nur nicht, dass deshalb die Bedeutung der Medien geringer geworden ist. Was früher in der Politik der direkte Kontakt vor Ort war, läuft heute über die digitalen Kommunikationswege, aber das ersetzt natürlich nicht die traditionellen Medien. Vielleicht, dass dadurch die Gewichte ein wenig verschoben werden . . .

Vor allem die wirtschaftlichen Möglichkeiten . . .

Ja, vielleicht auch die Möglichkeiten. Trotzdem weiß ich, wie wichtig nach wie vor in politischen Entscheidungsgremien die Berichterstattung in den klassischen Medien, vor allem den Zeitungen und im Fernsehen, genommen wird.

Sie galten in Ihrer aktiven Zeit als Politiker als gesellschaftspolitisch sehr konservativ und wirtschaftspolitisch liberal. Von beidem finden sich im Buch nur Spurenelemente - sind Sie linker geworden?

Ich und links? Sie sind der Erste, der mir das sagt. Ich bin nicht so leicht einzuordnen. Die Pickerl wie "unsozial", "neoliberal" oder "erzkonservativ", die mir Medien und Mitbewerber immer versucht haben anzuheften, haben damals nicht gestimmt und stimmen heute noch immer nicht. Und mit links-rechts hat das schon gar nichts zu tun. Mit solchen Begriffen und Einteilungen aus dem 19. Jahrhundert kommt man heute nicht mehr weit, die Welt ist wesentlich bunter geworden. Sind Grüne, die für den Verzicht individueller Mobilität eintreten, nun wirklich noch links, und Konservative, die sich für den Erhalt der Umwelt einsetzen, deshalb auch links? Sind Freiheitliche, weil sie an der EU kratzen, deshalb in ein Nazi-Eck zu stellen? Das passt doch alles nicht mehr zusammen.

"Was.Mut.Macht. Bemerkungen und Bemerkenswertes" (Ecowin Verlag 2020). In 200 persönlichen Anekdoten surft Wolfgang Schüssel außerordentlich kurzweilig durch seine Erinnerungen aus Politik, Familie, Kunst und Kultur. Illustriert ist das 419 Seiten starke Buch mit Zeichnungen aus der Feder des Alt-Kanzlers.

Was zur Frage führt, warum es uns bis heute nicht gelungen ist, ein neues, passenderes politisches Vokabular zu entwickeln, mit dem sich die politischen Gräben unserer Zeit trennscharf bezeichnen lassen?

Weil wir Menschen Schubladen lieben, und in meinem Buch habe ich versucht, noch ein paar neue Schubladen zu öffnen; weil es mir einfach wichtig war, sichtbar zu machen, dass es in ganz vielen Bereichen, nicht nur in der Politik, sondern auch in Kunst und Literatur, Persönlichkeiten und Perspektiven gibt, die spannend sind, eben weil sie über die allzu schlichte Einteilung in vier, fünf Kategorien hinausweisen. Ich weiß schon, dass wer die Macht über die Begriffe gewinnt, auch die Diskussion bestimmt. Deshalb ist es eine große Versuchung, jemanden kleiner zu machen, um ihn auf diese Weise in eine bestimmte Schublade zu stecken. Das ist ein harter Machtkampf, das muss man auch so ehrlich sagen. Trotzdem appelliere ich dazu, weg von dieser Schlichtheit zu kommen und Vielfalt nicht nur zuzulassen, sondern die Farbpalette auch zu erweitern: eben nicht immer nur Rot, Türkis, Blau oder Grün, sondern auch all die vielen Farbtöne dazwischen vorkommen zu lassen. Die Welt ist nicht so einfach gestrickt, wie wir sie manchmal erscheinen lassen wollen. Wer sich diese Fähigkeit nimmt, der endet als Farbenblinder.