Angela Merkel ist das Gesicht der CDU im Europawahlkampf. Der Sparkurs der Kanzlerin für die Euro-Länder ist in Deutschland unangefochten - warum eigentlich?
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Berlin/Wien. Glanz und Glamour versprühen Wahlkampfveranstaltungen für gewöhnlich nicht. Erdig geht es zu, Bier und Bratwurst sind kulinarische Fixstarter, ebenso bemühte Regionalpolitiker, die vor einem hochrangigen Gast ein paar Sätze sagen dürfen. All das gibt es auch, wenn Angela Merkel auftritt. Doch inszeniert die deutsche CDU ihre Kanzlerin im EU-Wahlkampf nicht wie eine Politikerin, sondern wie einen gerade auf Tournee befindlichen Popstar und verspricht auf der Webseite: "Angela Merkel live erleben."
Fesselnde Auftritte und Reden sind zwar nicht Kernkompetenz der 59-jährigen Christdemokratin - dennoch trifft die CDU-Kampagne einen Nerv. Deutschlands Kanzlerin oder wir, lautet in Europas Krisenländern das Verdikt der Kritiker an der von Merkel und ihrem Finanzminister Wolfgang Schäuble vertretenen Sparpolitik. In der Heimat verbreiten die CDU-Strategen virtuos die Botschaft "Merkel, wer sonst", lassen nicht im Geringsten eine Wechselstimmung aufkommen. Mit 37 Prozent kann die Union aus CDU und CSU bei der Europawahl rechnen. Die Sozialdemokraten liegen Umfragen zufolge abgeschlagen bei 27 Prozent, die Grünen und die Linkspartei erreichen jeweils neun Prozent, die EU-kritische Alternative für Deutschland (AfD) kommt auf sieben Prozent und die liberale FDP auf drei Prozent.
Vergleicht man die Umfragewerte mit dem Ergebnis der Bundestagswahl vor einem dreiviertel Jahr, wirken die Resultate wie einzementiert. Die Sozialdemokraten kommen nicht vom Fleck. Politiker der Linkspartei, allen voran Gregor Gysi und Sahra Wagenknecht, sind zwar gern und oft gesehene Vertreter in Talkshows und warnen dort vor einer immer größer werdenden Schere zwischen Arm und Reich. TV-Präsenz und Wählerstimmen verhalten sich jedoch indirekt proportional. Und die Öko-Partei wirkt seit dem abermaligen Verfehlen einer rot-grünen Koalition wie sediert. Auch die Furcht, die AfD könnte rechts von der CDU massenweise die Stimmen jener einsammeln, die die kriselnden Länder sich selbst überlassen wollen, hat sich als unbegründet erwiesen. Die AfD ist zwar erstarkt, aber keine ernsthafte Gefahr.
Wieso prallt in Deutschland die Kritik an Merkels Kurs ab, wenn in Spanien und Griechenland mehr als die Hälfte der Unter-25-Jährigen ohne Arbeitsplatz ist? Wenn ein Drittel der Iren laut Eurostat von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht ist? Wenn Portugal in diesem Jahr den härtesten Sparetat seit 1977 verabschiedet hat?
Zähneknirschende Zustimmung
Erstens, weil es SPD und Grünen nicht gelungen ist, ein tragfähiges Alternativkonzept zu entwickeln. Die zwei Hauptinstrumente im Kampf gegen die Schuldenkrise, der Fiskalpakt und der Euro-Rettungsschirm ESM, wurden von der damaligen konservativ-liberalen Bundestagsmehrheit verabschiedet, aber auch die überwältigende Mehrheit der roten und grünen Abgeordneten stimmte zähneknirschend zu. Somit ist Merkels Krisenmechanismus bis auf die Linkspartei im Kern unumstritten.
Sakrosanktes Sparen
Zweitens ist das, was Kritiker verächtlich als "schwäbische Hausfrauenmentalität" bezeichnen, derzeit sakrosankt. Sparen und brav die Maastricht-Kriterien einhalten, die eine Neuverschuldung von nur drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) vorsehen, sind Konsens. Vergessen scheinen die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts, als der damalige Kanzler Gerhard Schröder beim Umbau des Arbeits- und Sozialmarktes nonchalant jene Kriterien hintenangestellt hatte. Bereits seit Jahren profitiert Deutschland von Schröders Strukturreformen der Agenda 2010 - wenn auch mit mehreren Schönheitsfehlern (die drastisch gesunkene Arbeitslosigkeit wurde erzielt mithilfe von Billig-Jobs und Teilzeitbeschäftigung). Zudem brummt die Exportwirtschaft. Als Europa wankte, verordnete sich Deutschland 2009 eine Schuldenbremse. Demnach darf die Kreditaufnahme des Bundes in wirtschaftlich normalen Zeiten nicht größer als 0,35 Prozent des BIP sein. Und im kommenden Jahr will der Bund zum ersten Mal seit 1969 keine neuen Schulden aufnehmen.
Erste Ergebnisse
Was an schmerzvollen Reformen für Deutschland recht ist, muss also auch für die anderen Euro-Länder billig sein. Noch dazu, da, drittens, der Sparkurs langsam Früchte zu tragen scheint. Griechenland hat vier Jahre nach dem Beinahe-Bankrott erstmals wieder eine Anleihe am Kapitalmarkt verkauft und insgesamt drei Milliarden Euro eingenommen. Portugal, das mit einem 78 Milliarden Euro schweren Hilfspaket gestützt werden musste, hat im April eine zehnjährige Anleihe über 750 Millionen Euro begeben. Läppische 3,58 Prozent beträgt der Zinssatz. Irland hat gar den Euro-Rettungsschirm Ende 2013 verlassen und sich zwischenzeitlich eine Milliarde Euro am Kapitalmarkt besorgt.
Nach deutscher Leseart bestätigt sich damit die Beharrlichkeit Merkels. Ob die dafür aufgebrachten Opfer verhältnismäßig sind, beantworten jene Ziffern allerdings nicht. Langjährige Merkel-Gegner fragen sich dennoch, ob die Kanzlerin nicht doch recht hatte. "Muss ich mich jetzt entschuldigen?", stellte "Zeit"-Journalist Mark Schieritz zur Debatte und ging mit seiner Kritik, die Sparpolitik ruiniere Spanien, Griechenland und den Euro, ins Gericht. "Das Prinzip Fordern und Fördern war richtig. Aber zumindest zu Beginn der Krise wurde auf Drängen der deutschen Kanzlerin zu wenig gefördert und zu viel gefordert", schreibt Schieritz. Er spricht Merkel nicht frei, anerkennt aber ihre Verdienste.
Die Bevölkerung tut es Schieritz gleich, 65 Prozent sind mit der Kanzlerin zufrieden. Auch deshalb kämpft sie an vorderster Front bei der Europawahl, ziert ihr Konterfei die CDU-Plakate. Den eigentlichen Spitzenkandidaten der Union, David McAllister, kann nur jeder zehnte Deutsche nennen. Und der konservative Kandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten, der Luxemburger Jean-Claude Juncker, liegt gegenüber seinem deutschen sozialdemokratischen Kontrahenten Martin Schulz deutlich im Hintertreffen, könnte man den Kommissionspräsidenten direkt wählen. Die SPD wirbt mit "Europa neu denken" - ausgerechnet bei einem Spitzenkandidaten, der seit 20 Jahren in Brüssel Parlamentarier ist.
Merkel muss also ran, um ihren Euro-Kurs höchstpersönlich zu verteidigen. Schließlich geht es darum, Schulz, der die Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes nicht ausschließt, zu verhindern. Die Eurobonds sind die rote Linie der Kanzlerin, eine Vergemeinschaftung der Schulden, kommt für sie nicht infrage. Was nicht heißt, dass sie mit einem Kommissionspräsidenten Schulz ansonsten nicht auch gut zusammenarbeiten würde, das gebietet Merkels Sinn für das Pragmatische. Überspitzt formuliert: Wer unter der Regierungschefin die Kommission anführt, ist ihr egal.