Udo Jesionek, ehemaliger Präsident des Wiener Jugendgerichtshofes, über die Vorteile einer eigenen Jugendgerichtsbarkeit, den Unterschied zwischen Kriminalität und Bubenstreichen - und warum Verbrechensopfer mehr Aufmerksamkeit verdienen.
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Wiener Zeitung:Herr Jesionek, Sie waren 21 Jahre lang Präsident des Wiener Jugendgerichtshofes, ehe dieser im Jahr 2003 von Justizminister Böhmdorfer aufgelöst wurde. Was war die Begründung für diese Entscheidung?Udo Jesionek: Der offizielle Aufhänger für diesen Beschluss waren Einsparungsmaßnahmen. Natürlich kommt es billiger, wenn man Jugend- und Erwachsenengerichtsbarkeit in einem Haus zentriert und Sozialarbeiter und Psychologen drastisch reduziert. Theoretisch könnte man auch jede Kinderklinik auflösen und die Kinder in "normalen" Spitälern auf die jeweiligen Fachabteilungen verteilen. Aber der Sinn einer Kinderklinik ist es ja, dass Kinder dort eine spezielle Behandlung erfahren.
Ein weiterer Grund für die Auflösung des Jugendgerichtshofes war die Behauptung, dass das Haus sich bautechnisch in einem schlechten Zustand befände. Was aber nicht stimmte. Knapp vor der Böhmdorfer-Entscheidung wurde das Gebäude um 90 Millionen Schilling renoviert. Sämtliche Installationen, Fußböden, Verhandlungs- und Turnsäle wurden erneuert. Nur ein kleiner Teil des Gefangenenhauses war noch renovierungsbedürftig.
Für welche Zwecke wird der ehemalige Jugendgerichtshof heute verwendet?
Das Haus steht leer und wird bisweilen als Filmkulisse für TV-Krimis genutzt.
Laut Justizministerin Berger soll in Wien Ende 2010 wieder ein Jugendgerichtshof installiert werden.
Das wäre sehr wichtig und begrüßenswert. Denn was in diesem Zusammenhang oft vergessen wird: Der Gedanke eines eigenen Jugendgerichtshofes reicht bis ins Jahr 1907 zurück. Damals erfolgte die Anordnung, dass man in allen Ballungszentren der Monarchie danach trachten solle, Jugendgerichtsbarkeit und damit in Zusammenhang stehende soziale Einrichtungen unter ein gemeinsames Dach zu bringen. Diese Überlegungen wurden durch den Weltkrieg unterbrochen. Aber bereits im Jänner 1919, also kurz nach Gründung der Republik, hat der Nationalrat der Republik Deutschösterreich einen Beschluss zur Errichtung von Jugendgerichtshöfen gefasst. So wichtig war den Menschen diese Sache damals!
Der Wiener Landesgerichtshof wurde schließlich am 1. Jänner 1929 eröffnet.
Zuvor gab es allerdings schon seit 1920 ein Vorläufermodell in der Hainburger Straße, zwei Jahre später übersiedelte man in die Rüdengasse (beides im 3. Bezirk, Anm.) .
Worin liegen nun konkret die Vorteile eines Jugendgerichtshofes?
Im Teamwork zwischen Richtern, Staatsanwälten, Sozialarbeitern, Psychologen und Pädagogen, die in jedem Einzelfall versuchen, zu einer konstruktiven Lösung zu gelangen. Was im "normalen" Strafrecht zwar ebenso wünschendwert wäre, aber praktisch nicht umsetzbar ist. Es geht darum, gemeinsam zu überlegen, was für konkrete Möglichkeiten und Varianten in einer speziellen Situation zur Verfügung stehen. Man darf nicht vergessen, dass es zwischen Juristen und sozialen Berufsgruppen seit jeher Berührungsängste gibt. All diese auf Gegenseitigkeit beruhenden Vorurteile gab es im Jugendgerichtshof allein schon deshalb nicht, weil man im selben Haus arbeitete und ständig miteinander kommunizierte. Auf Grund dieser Situation akzeptierte jeder die Kompetenz des anderen.
Ein Richterspruch basiert somit auf verhältnismäßig umfangreichen Vorinformationen.
So ist es. Um ein klassisches Beispiel zu nennen: Ein 14-jähriger Bub wird am Vormittag beim Stehlen einer CD erwischt. Das übliche Procedere setzt ein: es wird Anzeige erstattet, die Polizei gerufen, und der Bub mit aufs Kommissariat genommen. Im Normalfall wirkt das abschreckend genug und man setzt bis auf eine interne Vormerkung keine weiteren Schritte. Hingegen sieht ein Richter am Jugendgerichtshof diesen Akt und fragt weiter - nämlich wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass sich ein Schulpflichtiger am Vormittag in einem CD-Geschäft aufhält. Dann erfolgt ein Anruf bei der Jugendgerichtshilfe im Haus, die dem Fall nachgeht und vielleicht feststellt, dass der Bub seit sechs Wochen nicht in der Schule war - und das Jugendamt alarmiert.
Mit anderen Worten: Ein simpler Ladendiebstahl kann der Beginn einer kriminellen Karriere sein.
Ja, wobei sich Jugendkriminalität prinzipiell in zwei Gruppen einteilen lässt: einerseits gibt es sogenannte Jugendstreiche, die man im Alter zwischen 14 und 18 begeht. In diesem Zusammenhang denke ich gerne an ein Zitat aus Shakespeares "Wintermärchen", wo ein alter Schäfer Bubenstreiche mit den Worten kommentiert: "Ich wünschte, es gäbe kein Alter zwischen 12 und 25 - oder die jungen Leute verschliefen diese Zeit". Was ich sagen will: In der Pubertät, Vorpubertät und Adoleszenz geschehen Dinge, wo es im Normalfall keiner weiteren Schritte bedarf, weil es sich einfach um Dummheiten handelt.
Die andere, weitaus kleinere, aber viel heiklere Gruppe bilden jene Jugendlichen, die auf Grund ihrer Herkunft tatsächlich im weitesten Sinn verwahrlost sind. Kinder, die eine ganz miese bzw. überhaupt keine Erziehung genossen haben, die geschlagen und missbraucht wurden. In diesem Fall benötigt man Fachkräfte, die konstruktive Entscheidungen fällen. Und dies vermag ein erfahrener Jugendrichter zu tun.
Vor welchen Richtern müssen sich straffällige Jugendliche heute verantworten?
Ebenfalls größtenteils vor Jugendrichtern, aber leider nicht generell. Beispielsweise nicht in Bezirksgerichten, wenn es also um kleine Delikte geht.
Werden derlei Fälle nicht ohnedies zumeist mittels Diversion geklärt?
Größtenteils schon, aber jene Delikte, die nicht mit außergerichtlichen Maßnahmen gelöst werden können, werden in der Regel - zumeist aus Zeitgründen - mit wenig Engagement erledigt. Noch einmal: Die Entscheidung, Jugendrichter zu sein, ist keine Qualitätsfrage, sondern in erster Linie eine Frage der Persönlichkeit. Man muss in sich den Drang spüren, Menschen helfen zu wollen. Die Entscheidung für einen außergerichtlichen Tatausgleich bedeutet nämlich mehr Arbeit und Zeitaufwand. Und je überlasteter ein Richter ist, desto weniger gerne wird zu derlei Alternativen gegriffen, zumal da man den Richtern und Staatsanwälten nicht die Möglichkeit einräumt, diese Zeit einzuplanen. Hingegen ist auf Jugendgerichtshöfen dieses weitaus aufwändigere Procedere eingeplant. Den Täter mit dem Leid des Opfers direkt zu konfrontieren, greift weitaus tiefer, als wenn ein Richter im Talar verkündet: "Weißt du nicht, dass man fremdes Eigentum nicht beschädigen darf?" Wie gesagt: Sinnvolle Jugendgerichtsbarkeit mit Ausbildungs- und Therapiemöglichkeiten kostet zwar Zeit und Geld, kommt jedoch - abgesehen vom menschlichen Faktor - immer noch billiger als ein Rückfall mit erneuter Inhaftierung.
Was kostet, wirtschaftlich betrachtet, ein Tag Haft?
Rund 70 bis 80 Euro. Aber man darf nicht vergessen, dass Haft allein ja nichts ändert. Ein hochaggressiver Mensch wird, nur weil er eingesperrt ist, um keinen Deut weniger aggressiv. Im Gegenteil. Die Rückfallquoten sind in solchen Fällen enorm hoch, und zwischen erneuter Tat und abermaliger Haft gibt es erneut Opfer. Böhmdorfer hat im Rahmen der Jugendgerichtsauflösung übrigens auch die Sozialarbeiter und Psychologen in den Haftanstalten reduziert. In Stein gibt es derzeit für rund 800 Häftlinge nur vier bis sechs Psychologen sowie einen Psychiater.
Apropos Haftbedingungen: Wie sieht die aktuelle Situation bei straffälligen Jugendlichen aus?
Nicht gut, vor allem deshalb nicht, weil die Burschen nun zu sechst oder zu acht in Zellen untergebracht sind. Man braucht keine allzu große Fantasie, um sich vorzustellen, was sich da in den Zellen abspielt.
War das im Jugendgerichtshof anders?
Dort waren die Zellen zwar nicht so schön, dafür jedoch waren die Burschen alleine oder höchsten zu zweit inhaftiert. Ein weiterer Nachteil ist, dass im Grauen Haus (Straflandesgericht Wien, Anm.) auf Grund der Enge der Situation viel zu wenige Räume für Aktivitäten zur Verfügung stehen. Es gibt zwar einen großen Turnsaal, allerdings für 1100 Häftlinge. Obwohl sich die Beamten wirklich sehr bemühen, ist die Lage nicht zufrieden stellend.
Wie stehen Sie zu dem Vorschlag der ÖVP, sogenannte Erziehungscamps für straffällige Jugendliche zu installieren?
Zum Thema Erziehungscamps gibt es eine Untersuchung von Professor Wolfgang Heinz von der Universität Konstanz, derzufolge derlei Institutionen und Einrichtungen rein gar nichts bringen. Die Amerikaner sind übrigens größtenteils auch wieder davon abgekommen.
Wie muss man sich diese Camps konkret vorstellen?
Dort herrscht militärischer Drill. Ziel ist es, die Persönlichkeit der Jugendlichen zu brechen. Aber zu glauben, auf diese Weise integere Menschen zu formen, ist Unsinn. Zumal es diesbezüglich weitaus bessere Methoden gibt, wie beispielsweise Aktionen, die im Rahmen der sogenannten Erlebnispädagogik durchgeführt werden. In Deutschland werden straffällige Jugendliche beispielsweise 14 Tage auf ein Schiff gebracht, wo sie lernen müssen, gewisse Strukturen einzuhalten.
Und das ist der entscheidende Punkt in dieser Frag: Man muss den Jugendlichen bewusst machen, dass es gewisse Regeln gibt, die einzuhalten sind. Disziplin und Frustrationstoleranz sind Dinge, die manche Jugendliche von Grund auf lernen müssen. Viele haben von Kindheit an nur die Vorstellung im Kopf, dass ausschließlich derjenige, der Gewalt anwendet, als Sieger aus einer Diskussion hervorgeht.
Kurz gesagt: Der Vater schlägt die Mutter, die Mutter das Kind, das Kind das Haustier. Streit- und Diskussionskultur müssen erst Schritt für Schritt erlernt werden. Militärische Erziehungscamps helfen dabei sicherlich nicht.
Welche Hoffnung verbinden Sie mit der Aussicht, dass es 2010 wieder einen Jugendgerichtshof geben wird?
Die Hoffnung, dass wir dort anknüpfen können, wo wir 2003 unterbrechen mussten. Der Grund, weshalb wir von Kriegsende bis zur Auflösung des Jugendgerichtshofes, international betrachtet, eine relativ geringe Jugendkriminalität hatten, liegt meiner Meinung nach in dem dort tätig gewesenen Team: Jugendgerichtshof, Jugendgerichtshilfe, Bewährungshilfe und Jugendamt haben ergänzend agiert und vieles im Vorfeld abgefangen. Die Statistik zeigt, dass die Kriminalitätsrate seitdem wieder gestiegen ist.
Nachdem Sie sich Jahrzehnte lang mit der Situation der Täter befasst haben, setzen Sie sich heute verstärkt mit der Lage von Verbrechensopfern auseinander. Seit 1991 sind Sie Präsident des Opferschutzvereins "Der Weisse Ring".Wobei man in diesem Zusammenhang sagen muss, dass es ein langer Weg war, bis den Opfern Gehör verschafft wurde. Bis 1987 wurde in Österreich die emotionale und psychosoziale Situation des Opfers nicht berücksichtigt, bzw. hat man sich auf Schadenersatzklagen beschränkt.
Sie meinen, die Tatsache, dass Verbrechensopfer durch eine Tat traumatisierst sind, wurde nicht berücksichtigt?
Ja, man dachte nicht daran, sich mit der Situation der Opfer zu beschäftigen. Dieses Thema wurde im Grunde erst durch die Japaner, später durch die Amerikaner ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Die Viktimologie als Unterdisziplin der Kriminologie ist nicht einmal 50 Jahren alt. Und dann wurde man sich auch der Traumatologie bewusst. Erst durch den Vietnamkrieg wurde den Amerikanern klar, dass viele Kriegsheimkehrer psychisch so belastet sind, dass sie kein normales Leben mehr führen können. Seitens der Veteranenverbände wurde sehr viel Geld in die Forschung gesteckt, bis in den 1990er Jahren die posttraumatische Belastungsstörung als eigenes Item in den Katalog der Krankheiten aufgenommen wurde.
Wofür setzt sich "Der Weisse Ring" konkret ein?
"Der Weisse Ring" ist eine gemeinnützige Gesellschaft, die jenen Menschen, die auf Grund einer kriminellen Handlung in eine Notsituation geraten sind, helfen will. Egal, um welche Art von Delikt es sich handelt. Mittlerweile ist ja bekannt, dass nicht nur Opfer von Kriegsereignissen oder entsetzlichen Unfällen traumatisiert sind, sondern dass dies auch bei sogenannten "kleinen Delikten", etwa nach Einbrüchen oder Handtaschendiebstählen, der Fall sein kann.
Mit anderen Worten: "Der Weisse Ring" ist eine Art Clearingstelle?
Ja, wir arbeiten mit den vorhandenen Hilfseinrichtungen zusammen und übernehmen jene Fälle, für die sonst weder Zeit noch Geld vorhanden ist. Seit 1. Juli 2007 betreibt "Der Weisse Ring" im Auftrag des Justizministeriums den österreichweiten Opfernotruf 0800 112 112. Darüber hinaus ist die Polizei bei Gewalt- und Körperverletzungsdelikten dazu angehalten, die Opfer über die Existenz des "Weissen Ringes" in Kenntnis zu setzen. Mit Einverständnis der Opfer werden die Daten an uns weitergeleitet, woraufhin wir uns mit ihnen in Verbindung setzen.
Wie sieht die Hilfe dann aus?
Das ist unterschiedlich. Die Palette reicht von rechtlichen Orientierungsgesprächen, psychosozialer und juristischer Prozessbegleitung bis hin zur Finanzierung oder Vorfinanzierung diverser notwendiger Leistungen. Außerdem haben wir durchgesetzt, dass jedes Opfer von Gewalt - unabhängig vom Einkommen - Anspruch auf einen kostenlosen Rechtsanwalt und/oder Therapeuten hat.
Zu den wichtigsten Tätigkeiten unserer Mitarbeiter zählt es aber, sich Zeit für Gespräche mit den Opfern zu nehmen, denn die Opfer-Thematik ist eine sehr komplexe Angelegenheit. Man macht sich kaum eine Vorstellung davon, mit welchen skurrilen Schuldgefühlen Verbrechensopfer bisweilen zu kämpfen haben. Hinzu kommt, dass speziell ältere Menschen oft gehemmt sind, Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Ähnlich wie in Ihrer Funktion als Präsident des Jugendgerichtshofes ist somit auch in Sachen Opferschutz vor allem Kommunikation wichtig.
Genau so ist es. Man muss immer differenzieren und die Vorgeschichte kennen. Nur so kann man Menschen helfen.
Udo Jesionek, geboren 1937, Werkzeugmacherlehre, 1955 Facharbeiterprüfung, 1957 Externistenreifeprüfung. Studium an der Wiener Universität, zuerst Staatswissenschaften, dann Rechtswissenschaften. Promotion zum Doktor der Rechtswissenschaften im Mai 1962.Gerichtspraxis ab Februar 1962, Ernennung zum Richter 1965. Richter bei verschiedenen Bezirksgerichten in Niederösterreich, beim Strafbezirksgericht und beim Landesgericht für Strafsachen Wien (zuletzt als Vizepräsident). Präsident des Jugendgerichtshofes Wien von 1982 bis Ende 2002.Universitätslektor seit 1981, Ernennung zum Honorarprofessor für Jugendstrafrecht und Strafvollzug an der Johannes-Kepler-Universität Linz 1990. Zahlreiche Publikationen, insbesondere auf dem Gebiet Jugendstraf- und Jugendwohlfahrtsrechts, der Kriminologie, Viktimologie und des Strafprozessrechtes.Von 1970 bis 1984 Vorsitzender der Bundessektion Richter und Staatsanwälte der Gewerkschaft öffentlicher Dienst. 1974 bis 1983 Präsident der Vereinigung der österreichischen Richter. 1975 bis 1984 stellvertretender Vorsitzender der Zivildienstkommission. 1987 bis 1995 Mitglied, später Vorsitzender der Kommission zur Wahrung des Rundfunkgesetzes. Von 1979 bis 1999 stellvertretender Obmann des Vereins für Bewährungshilfe und Soziale Arbeit.Derzeit Mitarbeiter und Leitungsmitglied bei zahlreichen juristischen, sozialen und kirchlichen Organisationen, unter anderem als Präsident der Verbrechensopferhilfeorganisation "Weisser Ring" und Vorsitzender des Vollzugsbeirates beim Bundesministerium für Justiz. Träger des Hans Czermak-Preises, des Großen Silbernen Ehrenzeichens für Verdienste um das Land Wien sowie des Silbernen Ehrenzeichens für Verdienste um das Land Oberösterreich.